Die Feuerkämpferin 01 - Im Bann der Wächter
etwas fähig? Aber warum sollte er das getan haben? Zu welchem Zweck? Allein schon der Gedanke erschütterte Amhal bis ins Mark. Wenn das stimmte, hätte er alles falsch gemacht, hätte er sich für einen verbrecherischen Plan hergegeben, dessen Ziel er nicht durchschaute. Damit wäre der düstere Weg, den er eingeschlagen hatte, sogar noch grauenhafter, als er geglaubt hatte. Nein, San konnte zwar sehr grausam sein, wie er mittlerweile erkannt hatte, aber schlimmer als er selbst war er nicht. Sie waren sich einfach sehr ähnlich, beide Geschöpfe der Finsternis und zu etwas Bestimmtem ausersehen. Aber solch ein Verbrechen, solch ein Verrat gehörte nicht dazu. Diese Tat widersprach allem, was er von San gelernt hatte, seinen Ansichten über die Welt und über das Leben, seiner Einstellung zu Magie und Schwertkampf, die Amhal übernommen hatte. Deswegen konnte er es nicht getan haben. Allein schon die Vorstellung zerriss Amhal innerlich, brachte ihn um den Verstand.
Dann steckte also Neor dahinter. Ein Plan, um die Macht an sich zu reißen. Aber was war mit Learco geschehen? Amhal dachte zurück an die Monate, die er am Hof verbracht hatte, an die Zeit, als ihm der Schutz der königlichen Familie oblag. Richtig kennengelernt hatte er niemanden aus dieser Familie. Die lebhafteste Erinnerung hatte er noch an Amina, aber auch nur von jenem glücklichen Tag her, den sie zu dritt, Amina, Adhara und er, verbracht hatten. Dieses Bild, wie sie sich einträchtig vergnügt hatten, schnürte ihm das Herz zusammen. Learco hingegen war so etwas wie eine Legende für ihn, die er voller Ehrfurcht betrachtete, ihm aber so fern war wie die Helden, die man in Büchern gezeichnet oder in Fresken und Mosaiken dargestellt fand. Zudem wurde ihm jetzt bewusst, dass er ihn stets mit den Augen seines Meisters gesehen hatte. Mira hatte Learco vertraut, hatte ihm sein ganzes Leben gewidmet, war bereit gewesen, für ihn zu sterben.
»Weniger für ihn persönlich, obwohl er ein großer Mann ist, sondern für das, was er geschaffen hat, die Verwirklichung eines langen Traumes. Er hat uns eine Hoffnung, den Herzenswunsch aller friedliebenden Geschöpfe erfüllt, hat ein unsicheres Bestreben in die Tat umgesetzt. Deswegen habe ich geschworen, ihn mit meinem Leben zu beschützen«, hatte Mira einmal zu ihm gesagt, und jetzt überkam ihn bei der Erinnerung an diese Worte eine Sehnsucht, die ihm das Herz zerriss.
Und was war mit Learcos Sohn? Über Neor wusste er kaum etwas, weil er wenig mit ihm zu tun gehabt hatte. Am Hof jedenfalls genoss er einen guten Ruf. Gewiss, manch einen hatte die schneidende Intelligenz des Königssohnes auch mit Misstrauen erfüllt, die Art und Weise, wie er zum wichtigsten Ratgeber seines Vaters und damit zum faktischen Herrscher über das Land der Sonne aufgestiegen war. Doch das war nur niederträchtiges Gerede gewesen, das einige wenige neidische Höflinge hinter vorgehaltener Hand geäußert hatten. Plötzlich aber erhielt dieses Gerede eine Grundlage, nahm den Gehalt von Beweisen, Indizien, Verdachtsmomenten an, die ihn von Anfang an hätten alarmieren müssen. Was hatte er aus Miras Mund schon über Neor gehört? So gut wie nichts.
»Er wäre ein guter König, ein würdiger Nachfolger seines Vaters, wenn er nicht diesen Unfall gehabt hätte.« Das hatte Mira einmal gesagt. Zu wenig, um ein klares Bild zu vermitteln.
Und so beruhigte sich nun langsam Amhals Geist. Denn es war leichter, an die Schuld eines so gut wie Unbekannten zu glauben, als an die seines Mentors, jenes Mannes, der ihn durch die Finsternis der vergangenen Wochen geleitet, ihm neue Horizonte und eine neue Welt geöffnet hatte. Andernfalls hätte er sich eingestehen müssen, alles falsch gemacht zu haben. Und das gelang ihm nicht. Das konnte er nicht.
Die ganze Nacht lag er wach und kam sich dabei wie ein Gefangener vor: ein Gefangener des Schicksals, aber auch seiner selbst und seiner Entscheidungen. Und er überlegte, wie er sich jetzt verhalten sollte: so weitermachen, als wenn nichts geschehen wäre? Den Ausgang des Prozesses abwarten. Zurückkehren zu einer früheren Normalität, die jetzt aber noch unmöglicher geworden war?
San war unschuldig. Er musste unschuldig sein! Und er war sein Lehrer, immer noch. Das empfand Amhal ganz tief in seinem Inneren.
Nach und nach schälte sich die Idee heraus. Zunächst verschwommen, ähnlich dem Kribbeln, das in jener ruhelosen Nacht seine Glieder befallen hatte, bahnte sie sich ihren Weg, drang
Weitere Kostenlose Bücher