Die Feuerkrone: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Deck hinaufzuziehen, und das bedeutet, dass er sich in dem Sekundenbruchteil, in dem er den Dolch löst, um ihn weiter oben wieder einzuschlagen, nur mit den Fingerspitzen der anderen Hand festhalten kann. Ich will ihm zurufen, dass er aufhören soll, aber in diesem Augenblick schwappt mir ein Schwall Salzwasser ins Gesicht, und ich muss husten.
Ein Klatschen ertönt, laut wie ein Trommelschlag, und das Besansegel rutscht ein Stück, bevor der Wind es packt und mit sich davonreißt. Nur ein Mann ist noch oben in den zerrissenen Wanten beim Mast. Wo ist der andere?
Dann wird es mir klar. Oh Gott. Er ist weg.
Aber jetzt dreht sich das Schiff mit quälender Langsamkeit. Der Bug hebt sich. Wasser spritzt mir übers Gesicht, gerät mir in die Nase. Ich huste und spucke und ringe nach Luft, als der Bugspriet den Wellenkamm schneidet.
Und dann fallen wir, fallen in ein Wellental. Ich fühle Hectors Arme, die sich um mich schlingen, als sich das Schiff endlich wieder aufrichtet.
Danke, Gott. Danke. Hector lehnt sich erschöpft gegen meine Schulter, und seine Brust drängt sich in Stößen gegen meinen Körper, als er sich das Wasser aus den Lungen hustet. Er klammert sich an mich und holt sich ausnahmsweise einmal Kraft von mir, statt sie zu geben.
» Euer Majestät!«, ruft Kapitän Felix. » Eine Peilung!«
Das Ziehen ist stärker denn je. Ich deute nach Backbord, als wieder ein Blitz über den Himmel fährt und sich jede Wolke klar erkennbar abzeichnet.
Ich deute direkt in den Hurrikan, der uns beinahe erreicht hat.
Der Kapitän sieht mich mit offenem Mund und starr vor Entsetzen an. Sein Bart klebt ihm triefend nass im Gesicht, und ich habe das Gefühl, einer dunkleren, wilderen Ausgabe Hectors gegenüberzustehen. Er will widersprechen, aber nun kommt ein Seemann über Deck zum Steuerruder gelaufen. » Die Bilge ist bis zur dritten Markierung vollgelaufen«, ruft er. » Wir kommen beim Schöpfen nicht mehr dagegen an.«
Felix’ Blick wird weicher, und er nickt zum Zeichen, dass er es gehört hat; der Matrose verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Ich sehe, wie der Kapitän die Augen schließt, wie er eine Sprosse des Steuerrads liebkost. Seine Lippen bewegen sich im Gebet, und ich weiß, dass er sich auf den Tod vorbereitet.
Einen Arm noch immer um Hector geschlungen, lege ich meine freie Hand auf meinen Bauch. Das Seil um meine Taille ist mir im Weg, und ich schiebe es so weit hinunter, bis ich den Feuerstein frei spüren kann, auch wenn ich mir dabei durch die salzwasserdurchtränkte Bluse die Haut aufscheuere.
Dann lege ich die Fingerspitzen auf den Stein. Was soll ich jetzt nur tun? Ich weiß, ich sollte Vertrauen haben und glauben, aber Gott, das ist unmöglich.
Das Schiff liegt plötzlich ruhig, auch wenn von allen Seiten Gischt über uns hinwegsprüht. Das ist der Hurrikan, der, mächtiger noch als die Wellen, das Wasser glättet, bevor er es in sich aufsaugt.
Hector bewegt sich ein wenig, sodass ich jetzt zwischen seinen Beinen sitze. Er schlingt einen Arm um die Reling, den anderen um mich, als könnte er mich vor dem Ungeheuer bewahren, das uns zu vernichten droht.
Ich lehne mich gegen ihn und lege meine Lippen an sein Ohr. » Betet mit mir«, sage ich.
» Das tue ich schon die ganze Zeit.«
Ich finde seine Hand, führe sie zu meinem Nabel, drücke seine Fingerspitzen über meiner Bluse gegen den Feuerstein. Dort halte ich sie fest und beginne im vertrauten, rhythmischen Tonfall mein Gebet: » Gesegnet ist, wer den Pfad Gottes beschreitet. Er wird nicht vom Wege abkommen, denn die rechtschaffene rechte Hand Gottes leitet ihn all seine Tage.«
Hector murmelt auch etwas, er klingt drängend, aber ich kann die Worte nicht verstehen. Es liegt eine Kraft darin, in dieser Art, wie wir gemeinsam beten, und ich spüre, wie sich diese Energie in mir aufbaut.
» Der Gottesstreiter schwanke und wanke nicht«, skandiere ich, und Wärme durchflutet meinen Bauch, bis mein ganzer Körper geradezu singt, bis ich wie ein Kelch bin, der kurz vor dem Überfließen steht. » Der Gottesstreiter halte fest an seinem Kurs. So er auch die Schatten der Dunkelheit durchschreiten mag, er fürchte sich nicht, denn Gottes rechtschaffene…«
Ein Krachen übertönt sogar den Sturm. Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass der Hurrikan den Bugspriet auseinandergebrochen hat. Nadeln aus Wasser bohren sich in meine Haut und in meine Augen. In wenigen Sekunden werden wir in Stücke gerissen und hinweggewaschen
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