Die Feuertaufe
Privatsphäre seiner eigenen Kajüte, suchte Charles jeden Quadratzentimeter seines Körpers ab – oder zumindest jeden Quadratzentimeter, den er sehen konnte. Er wollte wissen, wo man ihm das Giftreservoir implantiert hatte. Wenn er das Ding erst einmal fände, hatte er wenigstens eine Chance, es auch irgendwie loszuwerden.
Doch da war gar nichts. Keine Einschnitte, die trotz der Schnellheilung noch erkennbar gewesen wären, keine Narben, keine übermäßig warmen Hautstellen, keine kaum ertastbaren Knötchen – vielleicht hatte man ihm ja einfach eine Mikrokapsel unmittelbar unter die Haut injiziert. Nach allem, was Charles mit Augen und Fingerspitzen in Erfahrung gebracht hatte, konnte Mercier genauso gut auch nur – geblufft haben.
Doch Charles wusste es besser. Leute wie Mercier blufften bei derlei Dingen nie . Nicht, wenn sie nicht mussten.
Was auch immer sie ihm angetan hatten, Charles wusste, dass er es nicht so bald wieder rückgängig machen konnte.
Lyang Weiss blickte von seinen Unterlagen auf. Verärgert verkrampften sich seine Finger um das Papier, und sein Magen rotierte. »Danke«, sagte er zu dem Kurier, der vor seinem Schreibtisch stand. »Sie dürfen gehen.«
Die Frau nickte, vollführte eine militärisch präzise Kehrtwende und verließ den Raum. Weiss wartete, bis sich die Tür hinter dem Kurier geschlossen hatte, dann stieß er den Fluch aus, der ihm schon über die Lippen hatte kommen wollen, seit er die Unterschrift auf dem Schreiben gesehen hatte.
Trotzdem hielt er sich dabei kurz und sprach auch nicht allzu laut. In einer Botschaft des Andermanischen Kaiserreichs galt es schließlich, gewisse Gepflogenheiten aufrechtzuhalten. Und selbst von einem einfachen Militärattaché – einem stellvertretenden Militärattaché – wurde erwartet, diese Standards zu berücksichtigen. Oder vielleicht gerade von einem stellvertretenden Militärattaché.
Seufzend konzentrierte er sich wieder auf die diplomatische Note. Innerhalb der nächsten drei Wochen sind wichtige Entwicklungen auf Karavani zu erwarten , lautete der Text. Es ist von entscheidender Bedeutung, einen Beobachter vor Ort zu haben.
Das war alles. Zwei Sätze und eine Unterschrift. Noch kryptischer – und ärgerlicher – hätte der Text kaum sein können.
Was zur Hölle spielte Charles denn dieses Mal für ein Spielchen?
Nicht, dass die Informationen dieses Mannes nicht üblicherweise zuverlässig gewesen wären. Tatsächlich hatten sich einige der Leckerbissen, die er Weiss zugespielt hatte – natürlich gegen Zahlung erheblicher Summen – als äußerst interessant herausgestellt, sowohl für die Botschaft hier auf Haven als auch für Weiss’ Vorgesetzte daheim im Kaiserreich. Schließlich war Charles ein Solly, und einen Informanten mit guten Verbindungen zu den obersten Rängen der Liga konnte jeder Militärattaché gut brauchen.
Was jedoch die ganze Beziehung so mehrdeutig machte, dass es einem den Magen herumdrehen konnte, das war die Tatsache, dass zumindest gemäß den offiziellen Unterlagen besagter höchster Ränge der Sollys dieser Charles überhaupt nicht existierte.
Wer also war er? Die Auswahl fiel geradezu erschreckend binär aus: Entweder er war ein Niemand, ein billiger Trickbetrüger, der gerne so tat, als wäre er jemand, und der dabei Zugriff auf gerade genug Informationen und Technik-Spielereien hatte, um diese Vorspiegelung glaubwürdig erscheinen zu lassen. Oder er war ein derart hochrangiger Agent, dass die Liga selbst seinen gesamten bisherigen Werdegang gründlichst verschleiert hatte.
Die Havies schienen eher Ersteres anzunehmen – zumindest gemäß der wenigen vagen Andeutungen, die Weiss bislang hatte ausfindig machen können. Andererseits hatten sich die Havies ja auch schon in anderer Hinsicht getäuscht. Das jüngste und spektakulärste Beispiel dafür dürfte wohl Honor Harrington darstellen.
Angesichts dieses Gedankens musste Weiss in sich hineingrinsen, sosehr er sich auch über diesen »Charles« ärgerte. Auch wenn das Kaiserreich sich offiziell in Bezug auf den Krieg zwischen Manticore und Haven neutral verhielt, war es doch kaum ein Geheimnis, dass der Kaiser persönlich auf der Seite des Sternenkönigreichs stand – zumindest derzeit. Lady Harrington – nein, jetzt »Herzogin Harrington«, verbesserte sich Weiss in Gedanken – war sowohl der politischen Führung als auch dem Militär des Andermanischen Kaiserreichs schon sehr früh aufgefallen, sogar zu einem Zeitpunkt, da sie
Weitere Kostenlose Bücher