Die Fieberkurve
wird meine Sammlung an den Kanton Bern übergehen – ich habe ihn als Erben eingesetzt, und dann wird der Vetter irgendeines Rates zum Hüter dieses Schatzes ernannt werden. Er wird sich nicht viel um die Sammlung kümmern, sondern statt dessen jassen gehen, und wenn einmal ein Besucher kommt, wird die Ausstellung geschlossen sein... Ja! Aber ich soll erzählen... Gut...«
Die Geschichte vom ersten Daumenabdruck
Freiburg... Sie kennen Freiburg, Wachtmeister?... Ein hübsches altes Städtchen. Dort wurde am 1.Juli 1903 ein Mädchen vergiftet aufgefunden. Man dachte zuerst an Selbstmord. Auf dem Nachttischli, neben dem Bett, stand ein Glas – es enthielt Blausäure, genauer: KCN, Cyankalium.
Wo hatte sich das Mädchen das Gift verschafft? Rätselhaft... Um acht Uhr morgens fanden die Eltern die Tote in ihrem Bett; darauf riefen sie die Polizei. Damals amtete in Freiburg ein Kommissär, dem einiges von den neuen Methoden der Kriminalistik zu Ohren gekommen war. Er bemerkte auf dem Glase – es war ein glattwandiges Glas, wie man es gewöhnlich zum Zähneputzen gebraucht – einen deutlichen Fingerabdruck. Darum verpackte er das Glas in Seidenpapier und, da es damals in der Schweiz nur einen Mann gab, der auf dem ganz neuen Gebiete des Fingerabdruckes Bescheid wußte, telephonierte er mir...
Ich hatte gerade Zeit – im Juli gibt es für einen Fürsprech nicht viel zu tun. So fuhr ich nach Freiburg, nahm meinen Photographenapparat mit, pulverisiertes Bleikarbonat und pulverisiertes Graphit.
Ich will Sie nicht langweilen. Ich brachte den Fingerabdruck sauber auf die Platte, entwickelte sie, nahm die Fingerabdrücke der Toten, nahm die Fingerabdrücke der Eltern, des Polizeikommissärs – und verglich...
Es war eine mühsame Arbeit, dieses Vergleichen der Fingerabdrücke. Bald aber war ich sicher, daß irgendein Fremder in das Zimmer eingedrungen war und das Glas mit dem Cyankali auf das Nachttischli des Mädchens gestellt hatte... Und der Fremde war der Mörder...«
Herr Rosenzweig, der trotz seines Namens gar nicht jüdisch aussah, nahm ein Wattebäuschlein, um es in seinem Ohr zu versorgen...
»Die Zähne...«, sagte er entschuldigend. »Die Zähne schmerzen mich. Es ist das Alter, was wollen Sie, Wachtmeister!«
Sein Berndeutsch war gar nicht urchig. Seine Sprache war jenes Bundesschweizerdeutsch, das heutzutage jeder Gebildete in der Schweiz spricht...
»Ja... Ein Fremder hatte also das Glas mit dem Cyankalium auf den Nachttisch des Mädchens gestellt. Als nach der Obduktion auch noch bekannt wurde, das Mädchen habe ein Kind erwartet, schien es auf der Hand zu liegen, daß die Tochter einem Mörder zum Opfer gefallen war – einem sehr geschickten Mörder, denn als einzige Spur von ihm war ein Daumenabdruck auf einem Wasserglas zurückgeblieben...
Sie müssen sich das recht lebhaft vorstellen, Wachtmeister; damals waren die Verbrecher nicht so geschult wie heute; sie wußten nicht, daß sie der Abdruck eines Fingers verraten könne. Sie arbeiteten noch nicht mit Chirurgenhandschuhen. Und es war Zufall, purer Zufall, daß der damalige Freiburger Polizeikommissär an mich gedacht und mich gerufen hatte. Und Zufall, daß ich gerade Zeit hatte...
So bin ich zu dieser Photographie gekommen, und ich habe sie oft angeschaut, – ich habe sie vergrößert, aber die Vergrößerungen sind mir mißraten. Die Photographie verglich ich mit jedem neuen Fingerabdruck, den ich meiner Sammlung einverleibte. Denn immer hoffte und hoffte ich, daß ich einmal auf den Besitzer jenes Daumens stoßen würde.
Denn dies muß ich meiner Geschichte hinzufügen, die Untersuchung, die damals eingeleitet wurde, verlief im Sand. Das Mädchen genoß viel Freiheit – nach damaligen Begriffen. Zweimal in der Woche fuhr es nach Bern – es nahm hier Klavierstunden. Manchmal blieb es auch über Nacht in unserer Stadt, bei einer Freundin hieß es.
Der Kommissär von Freiburg setzte sich mit der Berner Polizei in Verbindung. Es gelang festzustellen, daß die Tochter ein paarmal im Hotel ›zum Wilden Mann‹ übernachtet, daß ein junger Mann sie jedesmal begleitet hatte... Das heißt: das Mädchen nahm stets ein Einzelzimmer, aber am Morgen trafen sich die beiden an der Frühstückstafel und der junge Mann wohnte ebenfalls im Hotel...
Nur – der junge Mann blieb verschwunden. Und alle Nachforschungen verliefen resultatlos – wie es immer so schön in den Zeitungen heißt. Der Portier vermochte den jungen Mann zu beschreiben – aber
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