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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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einem Manne zu verdanken, der statt Briefmarken Fingerabdrücke sammelte – und zwar Fingerabdrücke von allen Schweizer Verbrechern. Wohlgemerkt: Verbrechern... Um mindere Gesetzesübertreter kümmerte sich der alte Herr Rosenzweig nicht. Die Wände seines Arbeitszimmers waren mit Bildern behangen – unter Glas und Rahmen! –, die aussahen wie Reproduktionen surrealistischer Gemälde. Es waren – Vergrößerungen von: Daumen, Zeigefingern, Handballen. Zehnfache, zwanzigfache Vergrößerungen... Zwischen Wellenlinien, Spiralen und Einbuchtungen schwammen winzige Inseln: die Schweißporen...
    Bevor Studer den Pater in der einsamen Wohnung der Sophie Hornuss zurückließ, sprach er folgende Worte:
    »Meinetwegen und wenn Ihr Lust dazu habt, könnt Ihr davonlaufen. Ich rat' es Euch nicht, denn wir würden Euch bald wieder haben. Ich muß notwendig einen Bekannten besuchen. Ihr seid mir von meinem Freunde Madelin empfohlen worden, darum möcht' ich Euch nicht einfach ins Amtshaus mitnehmen und Euch dort einsperren. Laßt mich meinen Besuch machen, dann wird sich vielleicht einiges klären; ich komm' Euch wieder abholen und dann können wir weiter sehen...« Dabei dachte Studer: ›Das klingt ganz schön: weiter sehen... Aber was wird schon das Weitere sein?‹
    Der alte Herr Rosenzweig, der die Photographien von Fingerabdrücken so eifrig sammelte wie ein Kunstliebhaber Negerplastiken, wohnte an der Bellevuestraße. Und Studer nahm den Bus.
    Ein großer, knochiger Mann, der eine Brille mit Goldfassung auf der Nasenspitze trug, öffnete ihm die Tür. Glattrasiert, das Haar kurzgeschoren – und die Hände waren klein und gepolstert.
    »Ah, der Studer!« Herrn Rosenzweigs Begrüßung war herzlich, und dann fragte er im selben Atemzug, ob die Polizei wieder einmal am Hag sei? Das komme so oft vor in der letzten Zeit, fast alle Tage erhalte er Besuch, ob es nicht einfacher wäre, wenn die löbliche Polizeidirektion selbst einmal eine Sammlung von Fingerabdrücken anlegen würde? Hä?...
    »Die Kredite!« sagte Studer entschuldigend. Und: »Die Krise!«
    Der alte Herr kolderte los: Ja, da habe man immer die Ausrede mit Krediten! Kredite! Krise!... Die Krise habe einen breiten Buckel! Was der Wachtmeister Schönes bringe?
    Studer packte die Tasse aus, sehr sorgfältig, um nur ja ihre Außenwand nicht zu berühren. Der alte Herr griff selbst nach einer Streubüchse, die ständig auf seinem Schreibtisch stand, wie bei andern Leuten ein Anzünder oder ein Aschenbecher. Herr Rosenzweig rauchte nie.
    Die Tasse war hell, sorgfältig wurde das Graphitpulver auf die Flächen verteilt, fortgeblasen: zwei deutliche Fingerabdrücke...
    »Daumen und Zeigefinger«, sagte Herr Rosenzweig. Er nahm eine Lupe zur Hand, betrachtete lange die beiden Abdrücke, schüttelte den Kopf, blickte Studer an, fragte schließlich gereizt: »Woher habt Ihr das, Wachtmeister?«
    Studer erzählte seine Geschichte. Der alte Herr stand auf, murmelte etwas von Narbe... Narbe... holte einen Briefordner von einem Wandgestell (Studer sah die Jahreszahl 1903), blätterte darin und hielt dem Wachtmeister ein Blatt unter die Nase. Dazu sagte er:
    »Es ist natürlich Pfusch... Aber es könnte stimmen. Wollten wir anständig arbeiten, so müßten wir die Abdrücke auf der Tasse photographieren... Das können wir später tun. Aber ›à première vue‹, wie der welsche Nachbar sagt, auf den ersten Blick, scheint es sich um das gleiche Individuum zu handeln... Schauen Sie selbst, Wachtmeister...«
    Studer verglich. Eine schwere Arbeit!... Viel leichter war es, an einem Schlüsselloch Fasern festzustellen. Aber der Daumenabdruck auf der Tasse hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Daumenabdruck auf der Photographie. Über der Photographie stand:
    »Unbekannt.«
    »Was war das für ein Fall?« fragte Studer.
    Herr Rosenzweig lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, nahm eine Pfefferminzpastille aus einer kleinen Bonbonnière, bot dem Wachtmeister an, der dankend ablehnte, und sagte dann:
    »Neunzehnhundertdrei... Der Beginn der Daktyloskopie... Wachtmeister Studer, dies ist eine Rarität, die erste in der Schweiz verfertigte Photographie eines Fingerabdrucks... Sie werden sie nirgends finden – ich meine die Reproduktion dieses Daumenabdrucks. Locard hat einmal eine Stunde lang gebettelt – er ist direkt von Lyon gekommen, Reiß in Lausanne hat mir den Gottswille angehängt – ich habe nein gesagt. Ich bin standhaft geblieben... Warum? Wenn ich tot bin,

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