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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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einen uralten Fall. Im Jahre 1915, soviel ich weiß, also während der Sintflut, sind in Fez zwei Deutsche standrechtlich erschossen worden. Die Brüder Mannesmann: Louis und Adolf. Kannst du dir die Akten einmal geben lassen und mir sagen, ob in ihnen auch von einem Geologen Cleman die Rede ist?«
    »Aber natürlich! Ich kenn' den Archivar dort gut, der leiht mir die Akten. Um elf Uhr mach' ich einen Sprung ins Ministerium und heute abend, sagen wir um acht Uhr, können wir uns treffen. Bei mir daheim? Das wäre am gescheitesten, dann könnt' ich die Akten gleich mitbringen und du könntest sie durchsehen. Aber jetzt hab' ich zu tun. Leb wohl!«
    »He! Wart doch noch ein wenig! Du hast doch die Untersuchung über das Verschwinden eines gewissen Koller, der Börsenmakler war, geführt. Wir haben vorgestern am Telephon über den Fall gesprochen... Hast du etwas Neues erfahren über den Mann?«
    »Ja«, sagte Madelin, und sein Gesicht wurde plötzlich ernst. Er schwieg eine Weile. »Du meinst doch den Mann, dessen Verlustanzeige von seiner Sekretärin gemacht worden ist? Sekretärin!« wiederholte Madelin mit einer merkwürdigen Betonung.
    Daraufhin wäre zwischen den beiden Freunden fast ein Streit ausgebrochen, denn Wachtmeister Studer war lächerlich empfindlich, wenn es sich um Marie handelte.
    »Sie war seine Sekretärin!« sagte er laut und klopfte mit den Fingerknöcheln auf Madelins Schreibtisch. »Wenn ich dir sage, daß sie ein anständiges Mädchen ist! Willst du einen Beweis? Da! Schau!« Und er riß Maries Brief aus der Busentasche. »So schreibt mir das Mädchen! Ich will dir's übersetzen!«
    Um Kommissär Madelins Lippen lag ein unverschämtes Lächeln. Aber Studer sah es nicht, denn er war allzusehr mit den weiblichen Schriftzügen beschäftigt. Die Buchstaben tanzten zwar ein wenig vor seinen Augen, aber schließlich standen sie doch still und die Übersetzung ging ohne allzu große Schwierigkeiten zu Ende.
    »Gut, gut!« lenkte Madelin ein. »Das Mädchen ist ein Ausbund aller Tugenden... Aber nicht vom Mädchen wollt' ich dir erzählen, sondern von seinem ehemaligen Brotherrn, dem Jacques Koller, der verschwunden ist. Ich glaub', wir haben eine Spur... Heute früh hab' ich ein Telegramm vom Rekrutierungsbureau in Straßburg erhalten.
    Der untersuchende Arzt hat zufällig das Signalement gelesen, das wir von dem Verschwundenen verbreitet haben: 1,89 groß, gelbe Hautfarbe, glattrasiert, stumpfblondes Haar... Und der Arzt behauptet, gestern, also am 4. Januar, habe sich auf dem Rekrutierungsbureau ein Mann gemeldet, auf den dieses Signalement paßt. Der Arzt habe sich verpflichtet gefühlt, die Sûreté von diesem Faktum zu benachrichtigen. Der Mann hat als Namen ›Despine‹ angegeben und ist mit einem Transportschein nach Marseille weitergeschickt worden, wo er sich am 5. Januar, also heute, melden wird. Wir können seine Auslieferung nicht verlangen. Die Fremdenlegion liefert nur aus, wenn es sich um Mord oder um eine Summe handelt, die 100 000 Franken übersteigt. Nun hat Godofrey die hinterlassenen Papiere des Koller untersucht, aber keine Fälschungen entdeckt. Der Konkurs war die Folge von Ungeschicklichkeiten und nicht von Unehrlichkeiten... Was sollen wir nun machen, alter Freund? Den Koller laufen lassen?«
    Studer hockte da, die Unterarme auf den Schenkeln, die Hände gefaltet. Fremdenlegion! dachte er. Werd' ich also doch noch im Alter die Fremdenlegion sehen! Nach einer Pause sagte er eifrig: »Jaja, laß den Mann nur dort, wo er ist. Ich werde...« Aber er vollendete den Satz nicht. War es eine Vorahnung? Plötzlich kam es ihm vor, als sei es eine Unvorsichtigkeit, dem Divisionskommissär Madelin anzuvertrauen, daß er eine Reise nach Afrika zu unternehmen gedachte. Er stand auf.
    »Also, heut' abend bei dir...«, und er schüttelte Madelin die Hand. »Wo hat der Koller hier in Paris gewohnt?«
    Madelin schaufelte mit beiden Händen einen Wall von Papieren durcheinander. Endlich stieß er auf einen kleinen Zettel:
    »Rue Daguerre 18... Ganz oben am Montparnasse. Du läufst den Boulevard St. Michel hinauf, immer weiter, bis du zum Löwen kommst. Und die Rue Daguerre ist ganz in der Nähe. Leb wohl, Alter. Auf Wiedersehen.«
    Am Abend um acht Uhr war Madelins Wohnung dunkel. Studer läutete, läutete... Niemand kam ihm öffnen. Da meinte er, daß er den Kommissär falsch verstanden habe und ging zu den Hallen, in jene kleine Beize, in der er die Bekanntschaft des Paters gemacht hatte.

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