Die Fieberkurve
sich einen Rausch anzutrinken. Man braucht dies von Zeit zu Zeit, wenn man müde, nervös, gereizt und verärgert ist. Aber der Rausch wollte nicht kommen. Er wirkte nur an der Oberfläche, die Ruhe drang nicht in die tieferen Schichten von Studers Gemüt; denn dort herrschte Unordnung und Chaos, dort hockte eine kalte Verzweiflung. Der einsame Wachtmeister hatte den Eindruck, daß mit ihm gespielt wurde – und es war ein grausames Spiel, grausam deshalb, weil er die Regeln nicht kannte.
Am späten Vormittag erwachte er, merkwürdigerweise mit ziemlich klarem Kopf. Und da Kommissär Madelin noch immer nicht zu sprechen war, beschloß Studer, Godofrey aufzusuchen. Als er nach ihm fragte, wurde der Bureaudiener verlegen.
»Ja... vielleicht... ich weiß nicht...« Dann Tuscheln hinter einer Tür. Man schien auf diese Frage nicht vorbereitet zu sein.
»Zimmer 138, unterm Dach.«
»Merci«, sagte Studer, und er dehnte das Wort nicht mehr, wie er es z'Bärn gewohnt war. –
Lange Gänge, Stiegen voll Staub, wieder ein langer Gang; jetzt war man unterm Dach. Es war dunkel, keine Lampe brannte. Im Flackern eines Streichholzes entdeckte Studer endlich die angegebene Nummer..
Godofrey bereitete dem Wachtmeister einen rührenden Empfang. Er trug einen alten Labormantel, der vor sehr langer Zeit einmal weiß gewesen war. Jetzt war er bunt: rot, blau, gelb. Und im Laboratorium stank es – aber dieser Gestank war angenehmer als der Geruch nach Staub und Bodenöl.
– Es sei schön, daß der Herr Inspektor wieder in Paris sei! Der Herr Inspektor Stüdère... »Wie oft hab' ich nach Ihnen gefragt«, sagte Godofrey und flatterte herum wie ein farbiger Vogel. »Aber seit vorgestern ist der ›Patron‹ wütend über Sie, Inspektor.«
Ja, meinte Studer, das habe er gemerkt. Madelin sei plötzlich verschwunden. Was denn los sei?
»Politik!« flüsterte Godofrey eindringlich. Und setzte noch leiser hinzu: Studer sei selbst an allem schuld.
»Ich?« fragte der Wachtmeister. »Warum denn?«
Man habe Studer im Verdacht, für Deutschland zu spionieren... Da lachte der Berner Fahnder, aber es war kein herzliches Lachen. Das war ja eine Posse!
Darum die Verfolgung durch den Mann im steifen Hut! Madelin hatte ihn beobachten lassen, ihn, den Wachtmeister Studer!... Unglaublich!...
Godofrey schlich zur Tür, lauschte, riß sie auf – es war wie im Kino. Godofrey kam zurück, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte; er winkte, wie ein Verschwörer, und Studer näherte sein Ohr dem Munde des kleinen Mannes. Godofrey flüsterte:
»Sie haben sich nach den Brüdern Mannesmann erkundigt. Das genügte... genügte vollkommen... mehr brauchte es nicht. .. – Was er sich eigentlich einbilde, hat man Madelin auf dem Kriegsministerium gefragt. Die Akten des Falles Mannesmann? Nicht daran zu denken!...
Wozu er die Akten brauche? Ja, er, der Divisionskommissär Madelin?... Ah, für einen Freund? Einen Schweizer Polizisten? Von Bern?... Natürlich ein Boche! Das gäbe es nicht! Auf keinen Fall!... – Ja, so haben sie den ›Patron‹ auf dem Kriegsministerium abgefertigt.«
Schweigen. Studer dachte verschwommen, daß er ein Wespennest aufgestört habe... Unangenehm...
Der Kleine plapperte weiter.
»Setzen Sie sich, Inspektor. Sie haben unüberlegt gehandelt. Warum sind Sie nicht zu Godofrey gekommen? Godofrey weiß alles. Godofrey ist ein wandelndes Lexikon. Godofrey kennt alle Kriminalfälle des In- und Auslandes. Vom Fall Landru bis zum Fall Riieedell-Güala« – er meinte den Fall Riedel-Guala – »und Godofrey sollte den Fall Mannesmann nicht kennen? Inspektor! Warum haben Sie den ›Patron‹ mit dieser Sache belästigt?«
Studer zündete eine Brissago an – und sie schmeckte ihm. Das gescheiteste war wohl, man schwieg und ließ den kleinen Mann ruhig erzählen.
Godofrey fuhr fort: Er hatte vor einem Jahr wegen eines Spionagefalles im Kriegsministerium gearbeitet. Und da seien ihm durch Zufall die Akten Mannesmann in die Hände gefallen. »Der Name fiel mir auf; denn in meinem Berufe habe ich mit Mannesmannröhren zu tun. So nennt man die Behälter, – Sie werden dies wohl wissen – in denen man Gase unter hohem Druck aufbewahren kann. Ich habe mich damals gefragt, ob es sich um Verwandte dieses Mannesmann handelt und in den Akten geblättert. Ja, zuerst nur geblättert und dann aufmerksam gelesen... Zwei Brüder, angeblich Schweizer.«
»Das weiß ich alles«, unterbrach Studer. »Sie haben nach Blei, Silber, Kupfer
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