Die Fieberkurve
Hinter dem Schanktisch stand immer noch der Beizer mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, und seine Oberarme waren dick wie die Schenkel eines normalen Menschen. Studer wartete, wartete. Um Mitternacht gab er es auf.
In seinem Hotelzimmer versuchte er vergebens einzuschlafen. Die Lampe trug über dem weißen Glasschirm ein violettes Seidenstück von quadratischer Form, an dessen Ecken braune Holzkugeln hingen. Das erinnerte den Wachtmeister an die Küche der Sophie Hornuss in Bern. Er lag im Bett, die Hände im Nacken verschränkt, und starrte ins Licht. Zum erstenmal fiel ihm die zweite Merkwürdigkeit des Falles auf. Die erste war sein unschweizerischer – besser: sein auslandschweizerischer – Aspekt gewesen:
Man kämpfte gegen Schatten! Ein Schatten der Mann, der ihn am Telephon verhöhnte, ein Schatten der Hellseherkorporal, ein Schatten der Geologe Cleman, Alois Victor, der vielleicht – bewiesen war es noch nicht – mit dem Philosophiestudenten Koller aus Freiburg identisch war.
Schatten die beiden alten Frauen, die einen so merkwürdigen Tod gefunden hatten.
Schattenhaft waren auch die Dinge, mit denen man sich beschäftigen mußte: die Millionen, in Gurama vergraben, die ausgelegten Kartenspiele mit dem Schaufelbauer, die Briefe – das gelbe Kuvert sowohl, in welchem Korporal Collani die Fieberkurve geschickt hatte, als auch Maries Brieflein. Schattenhaft der Buick BS 3437 mitsamt dem großen Mann, der ihn bewachte, nachts, vor dem Haus in der Gerechtigkeitsgasse. Vom Lampenschirm des Hotelzimmers glitten Studers Gedanken zu den verbeulten Blechdosen... Zwei Küchen... Und Studer träumte von diesen Küchen.
Es war ein schauerlicher Traum, schwer und mit Angst geladen. Studer war in einer einsamen Oase, aber er wußte: sie war nicht leer. Ein Geschöpf hauste in ihr, weder Mensch noch Tier, das denen, die sich hierher verirrten, ins Genick sprang und sie zu Tode ritt. Der Wachtmeister ging gebückt und ängstlich unter den giftig-grünen Federpalmen. Da saß ihm das Geschöpf schon im Nacken, es hatte dürre Schenkel, die preßten Studers Hals zusammen. Und Studer ächzte. Pater Matthias tauchte auf, er hielt ein Kreuz in der Hand und rief: »Apage, Satanas!« Aber das Geschöpf kümmerte sich keinen Deut um die Beschwörung, es ritt weiter auf Studers Nacken, und der Wachtmeister mußte traben. Er hatte Durst. Pater Matthias war verschwunden, dafür standen plötzlich die verstorbenen alten Frauen da, und die eine hatte eine Warze neben dem linken Nasenflügel, während die Lippen der anderen schmal und zu einem höhnischen Lächeln verzogen waren. Sie tanzten wie Hexen einen grausigen Tanz... Studer fiel zu Boden, es war nicht Erde, auf die er fiel, nein, Fliesen waren es. Und als er aufsah, lag er in der Küche der verstorbenen Sophie. Alles war da: der braune Klubsessel, der Gasherd, der Küchentisch, mit Wachstuch überzogen. Doch im Klubsessel, neben dem Gasherd, saß Marie und schlief. Über die Schlafende beugte sich ein Mann mit gekräuseltem Bart und sagte mit hohler Stimme: »Ich hole sie alle, alle hol' ich sie zu mir.« Der Mann, der nur der Geologe Cleman sein konnte, beschrieb mit seinen dürren Händen Kreise um den Kopf des Mädchens, die blonden Haare sträubten sich. Dann war es nicht mehr Marie – eine Warze wuchs neben ihrem Nasenflügel – die Küche schrumpfte zusammen und war nur noch ein Durchgangskorridor. Die beiden Flammen des Gasréchauds pfiffen eine Walzermelodie, und auf der Etagère tanzten die Büchsen klappernd einen plumpen Tanz: »Mehl«, »Salz«, »Kaffee«. Und Studer dachte im Traum, daß sie vom Tanzen ihr Email verloren hatten... »Cleman Victor Alois«, sagte Studer laut – und immer noch lag er am Boden – »ich verhafte Sie wegen Mordverdachts!« Aber die Küche war leer, wenigstens schien es so. Ein Schatten hüpfte über die Wand. Diesen Schatten verfolgte Studer mit dem Schatten seiner Hand. Da begann der Schatten zu lachen, lauter und lauter, donnernd...
Studer fuhr auf, die Fenster des Hotelzimmers klirrten, eine Bogenlampe warf ihr kaltes Licht auf die Mauer, und auf der Straße rumpelte ein später Autobus vorbei.
Nein, der Herr Kommissär sei leider nicht da, sagte der Bureaudiener am nächsten Morgen. Er habe einer Untersuchung wegen nach Angers reisen müssen.
– Ob er denn nichts für Inspektor Studer hinterlassen habe? – Nein, gar nichts...
Gut, das konnte vorkommen. Ein Polizeikommissär kann nicht immer tun, was er gerne möchte...
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