Die Fieberkurve
Aber eine Nachricht hätte Madelin doch hinterlassen können, dachte Studer, als er an der Seine entlang ging und sich von einem verspäteten Morgenwind anblasen ließ. – Das ist nicht schön von Madelin, er weiß doch, daß ich warte!... Nun, man kann in diesem Fall einen kleinen Ausflug nach Montparnasse machen und sich das Haus ansehen, in dem Marie gewohnt hat.
Die Rue Daguerre ist eine kleine Straße, die von der Avenue d'Orléans abzweigt. An der Ecke hat Potin, das bekannte Lebensmittelgeschäft, eine Ablage. In den Schaufenstern liegen Gänse, Kaninchen, Gemüse. Neben dem Laden bietet eine Blumenfrau frierende Mimosen zum Kaufe an. Die Nummer 18 ist ein Hof, in dessen Hintergrund ein einstöckiges Gebäude kauert.
– O ja, der Bäcker, dessen Laden dem Haus Nr. 18 gegenüber lag, erinnerte sich noch gut an das Ehepaar Koller. Kollère, natürlich auf der letzten Silbe betont. Anders taten es ja die Franzosen nicht. »Eine so charmante Frau, immer höflich, immer lustig, nie den Mut verloren! Auch als der Mann plötzlich verschwunden war. Und Monsieur! Ein gebildeter Herr! Sah viel Freunde bei sich! Beschäftigte sich mit Philosophie, wissen Sie! Mit den letzten Dingen!«
»Mit den letzten Dingen?« fragte Studer erstaunt.
Der dicke Bäcker, dessen spärliche Haare in der Farbe an Pfälzerrüben erinnerten, blies die Backen auf. »Jaja, mit den letzten Dingen! Monsieur konnte in die Zukunft schauen, die Toten waren ihm gehorsam.«
»Die Toten?«
»Ja! sie kamen und sprachen und erzählten. Ich war selbst einmal anwesend. Es war passionierend! Man konnte sich mit den Toten unterhalten, sie klopften im Tisch, manchmal sprachen sie auch aus dem Mund des Herrn Kollère. Ja, es gibt merkwürdige Dinge zwischen Himmel und Erde!«
Arme Marie! Mit einem Spiritisten hatte sie also zusammengewohnt! Und das nannte man hier einen Philosophen! Aber die Frau, die das Hofhaus von Nr. 18 betreute, gab tröstlichere Kunde.
Marie nahm an den spiritistischen Séancen, die ihr Gatte – Ihr Gatte! ›Son mari!‹ sagte die Hausmeisterin! – veranstaltete, nie teil. Marie flüchtete sich zu ihr, sagte Madame. Sie sagte immer: »Ich habe solche Angst, Madame!«
Marie und Angst haben? Chabis! Studer ärgerte sich.
Er verließ die mitteilsame Frau und ging mit seinen breiten Schritten durch die laut schwatzende Menge der Fußgänger. Mittag war nahe. Studer fühlte sich allein, einsam, und der Traum der letzten Nacht wirkte dunkel nach. Vielleicht war auch das unangenehme Gefühl, das der Berner Wachtmeister zwischen seinen Schulterblättern und auf dem Nacken spürte, auf diesen Traum zurückzuführen. Einen Augenblick dachte er, jemand verfolge ihn. Als er sich umwandte, sah er nur gewöhnliche Fußgänger, Dienstmädchen, Frauen, Männer, Arbeiter...
Er setzte seinen Weg fort. Auf dem Boulevard St.-Michel war das Gefühl wieder da, der Wachtmeister blieb vor einer Auslage stehen und beobachtete die Straße... Nichts... Doch! Auf dem gegenüberliegenden Trottoir flanierte ein Mann mit einem steifen Hut – und blieb auch vor einer Auslage stehen. Studer ging weiter, er kannte ein chinesisches Restaurant in einer kleinen Seitengasse. Dort aß er zu Mittag, trank viele Tassen eines dünnen, erfrischenden Tees, erlabte sich an den gebackenen Keimen von Solabohnen und an einem Schweinsragoût, das so stark mit Curry gewürzt war, daß es ihm die Zunge verbrannte. Als er aus dem Restaurant trat, stand auf der anderen Seite der Straße der Mann mit dem steifen Hut und blickte ihn fest an. Studer beachtete ihn nicht.
Als der Wachtmeister über die Seine ging, um im Justizpalast noch einmal nach Madelin zu fragen, hatte er wieder das unangenehme Gefühl im Nacken. Er wandte sich um...
Ohne sich weiter zu verstecken, ging zehn Schritte hinter ihm der Mann mit dem steifen Hut. Er grinste unverschämt, als ihn Studers fragender Blick traf.
– Und Kommissär Madelin war noch nicht aus Angers zurückgekehrt –
Studer verbrachte den Abend in der kleinen Beize an den Hallen. Er schrieb seiner Frau eine Ansichtskarte und zehn Minuten lang fühlte er sich nicht mehr allein. Aber dann überfiel ihn das Gefühl der Einsamkeit mit verdoppelter Macht. Es war ihm, als werde er von den Gästen verhöhnt und als lache selbst der Beizer ihn aus.
Doch draußen, vor der Kneipe, deutlich zu sehen durch die hohen Fenster, patrouillierte der Mann auf und ab – der Mann mit dem steifen Hut.
In dieser Nacht versuchte Wachtmeister Studer
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