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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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ich einen Augenblick den Kopf verloren. Jetzt hab' ich ihn wiedergefunden, das war nicht schwer, denn er ist groß genug – der Kopf nämlich. Ich bin sehr froh, daß du die große Reise machst, denn allein kann ich mit der ganzen Sache nicht fertig werden. Und Pater Matthias kann mir gar nicht helfen... Warum? Das wirst du erfahren! Du mußt unbedingt zuerst über Géryville fahren, und wenn ich fahren sage, so ist das ein Verlegenheitsausdruck, denn du wirst kein Gefährt finden. Aber ich gebe dir Rendez-vous in Gurama. Dort werde ich dich notwendig brauchen. Sei also zur Stelle! Aber nicht vor dem 25. Januar. Und mach dir keine Sorgen, wenn du mich dort nicht antriffst. Ich werde erscheinen, wenn es nötig sein wird. Inzwischen kannst du dich dort mit dem Beherrscher des Postens unterhalten. Er heißt Lartigue und stammt aus dem Jura. Vielleicht findet ihr einen Dritten zum ›Zugere‹, aber spiel nicht höher als zehn französische Centimes den Punkt. Du hast bis jetzt eine gute Nase gehabt, fahre in dieser nützlichen Beschäftigung fort und sei herzlich gegrüßt von deiner Adoptivnichte
    Marie.«
    »Suumeitschi!« murmelte Studer und blickte sich gleich danach erschreckt um, nein! Niemand konnte diesen Ausruf gehört haben. Der Quai war leer, Gott sei Dank. So las er den Brief noch einmal und versorgte ihn dann bedächtig in seiner Busentasche. Mochte er dort mit der Fieberkurve gute Nachbarschaft halten! Doch seine Zufriedenheit und seine Freude über den Brief erlitt sogleich einen Dämpfer. Dieser Dämpfer nahm die Gestalt eines Windstoßes an, der ihm den steifen Hut vom Kopfe und in das Schwimmbassin blies. Alles Fluchen half da nichts. So kaufte sich Studer ein Béret; dann verließ er das Geschäft und betrachtete sich noch einmal prüfend im Spiegel des Schaufensters: er sah wirklich ganz unschweizerisch aus mit seinem glatten, mageren Gesicht, den massigen Körper eingezwängt in den dunklen Überzieher, der auf Taille geschnitten war; und das Béret gab ihm etwas Abenteuerliches. Er freute sich über sein Aussehen, der Wachtmeister Studer, er freute sich, daß er in eine fremde Haut geschlüpft war... Aber er wußte nicht, daß diese leise Freude, die in ihm zitterte, auf lange Zeit seine letzte sein sollte. Auf drei Wochen nämlich... Aber drei Wochen können sich dehnen, als seien sie ebensoviel Jahre.
    Von Port-Vendres geht zweimal die Woche ein Schiff nach Oran. Am nächsten Tage war eines fällig, und Studer war froh darüber, denn der Miniaturhafen ging ihm auf die Nerven – besonders sein fauliger Geruch nach Gerberlohe und spanischen Nüssen. Das Meer war schmutzig und seine Wellen glichen dicken, alten Frauen, die ein nicht ganz sauberes Kopftuch aus Spitzen auf die fettig-grauen Haare gelegt haben – und nun weht das Tuch, während die Weiber mühsam vorwärts rollen... Das Meer war also eine Enttäuschung, und die Enttäuschung verflog auch nicht auf dem Schiff. Im Löwengolf machte sich, wie meistens, ein Sturm bemerkbar, der teils mit Hagel, teils mit Schnee vermischt war. Studer wurde nicht seekrank. Aber er war doch unzufrieden: als französischer Polizeiinspektor durfte er keine Brissagos rauchen, Franzosen kennen diese geniale Erfindung nicht, sie rauchen Zigaretten, allenfalls Pfeife. Studer hatte sich eine Pfeife gekauft. Auf dem Schiff übte er sich darin, sie nicht ausgehen zu lassen. Es war schwer. Aber dann schmeckte sie ihm plötzlich – so gut, daß er eine seiner letzten Brissagos, die er verstohlen in der Kabine angezündet hatte, zur Luke hinauswarf. Der Ketzer schmeckte auf einmal nach Leim.
    In Oran hatte er nichts zu suchen. So fuhr er weiter nach Bel-Abbès.
    Und dort prallte er mit einer derart fremden Welt zusammen, daß ihm der Kopf brummte.
    Die Ankunft schon auf dem kleinen Bahnhof! Ein Dutzend Leute in grünen Capottes, die in der Taille von grauweißen Flanellbinden zusammengehalten wurden, standen da, und die Bajonette an ihren Gewehren schimmerten schwärzlich. Aus einem Waggon hinter der Lokomotive quollen viel unbewaffnete Uniformierte, die sich in Viererreihen aufstellen mußten – dann wurden sie von den Bajonettträgern eingerahmt und trabten ab. Studer folgte ihnen. Eine lange Straße zwischen Feldern, auf denen verkrüppelte Holzstrünke wuchsen. Es waren Reben, aber hier zog man sie anders als im Waadtland. Am Himmel stand ein unwahrscheinlich weißer Mond, der vergebens versuchte, die Wolken fortzuwischen, die immer wieder an seiner platten Nase

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