Die Fieberkurve
vorbeistrichen.
Ein Stadttor, aus roten Ziegeln erbaut... Eine breite Straße... Ein Gitter und vor dem Gitter ein Wachtposten, auch er in einer resedagrünen Capotte, der den Eingang bewachte... Und hinter dem Gitter der Kasernenhof, umgeben von trostlosen Gebäuden; sie erinnerten mit ihrem Aufsatz an die Häuser, die in den Vororten von Paris am Zuge vorbeigehumpelt waren.
Studer trat auf den Wachtposten zu und verlangte den Colonel zu sprechen. Der Posten hörte sich Studers Wunsch gelassen an und deutete dann mit einem Kopfruck nach hinten. Studer wurde ungeduldig. Wo er sich denn melden solle, fragte er barsch.
»Postenchef«, sagte der Mann und ließ sein Gewehr knallend von der Schulter fallen. Studer sprang erschreckt einen Schritt zurück. Aber der Posten hatte es mit der linken Hand aufgefangen; diese linke Hand lag plötzlich waagrecht – und jetzt erst verstand der Wachtmeister, daß der Posten das Gewehr präsentierte. Ein Offizier ging vorüber, von seiner Frau spazierengeführt, und grüßte nachlässig.
»Was?« fragte Studer, als das Gewehr wieder schief auf der Schulter des Resedagrünen lag.
»Sie müssen beim Postenchef melden!« wiederholte der Legionär. Die Worte waren hart wie Kieselsteine. Aber die Betonung? Die Farbe der Sprache? Wahr- und wahrhaftig!... Des Resedagrünen Sprache hatte berndeutschen Klang. Studer sah den Mann an. »Steh« ich in finstrer Mitternacht!« ging es ihm durch den Sinn. Aber die heimatlichen Laute machten das Ganze nur gespenstischer. Und es ging ein kalter Wind, der nach Erde und Sand schmeckte...
Der Postenchef war Russe. Ein Sergeant und sehr wohlerzogen. Er gab sich Mühe, seine Abneigung gegen die Polizei nicht allzu deutlich zu zeigen. Aber seine Blicke waren beredt... »Wenn ich dich an einer dunklen Straßenecke erwisch'!« schienen sie zu sagen. Fahnder waren nicht beliebt in der Legion.
Colonel Boulet-Ducarreau sei in seiner Wohnung. Man rate dem Herrn Inspektor Fouché jedoch, lieber morgen früh wiederzukommen...
Studer entfernte sich seufzend. Noch ein Tag! Aber er hatte ja Zeit, Zeit genug. Wenn er nur am 25. Jänner in Gurama war! Heute schrieb man den elften. Er aß in einem hellerleuchteten Restaurant zu Nacht, nicht schlechter als in Paris. Er trank einen süffigen Weißwein, der aber hinterlistig war. Einmal – der Wachtmeister führte gerade die Gabel zum Munde und erschrak dermaßen, daß er sich in die Lippen stach – legte sich eine Hand um seinen Fußknöchel... War er entlarvt? Wollte man ihn ketten? Zitternd hob er das Tischtuch. Ein winziger Araberjunge grinste ihn mit schneeweißen Zahnreihen an – ein Schuhputzer!
Colonel Boulet-Ducarreau ließ sich am besten mit einem Edamerkäse vergleichen, der im Gleichgewicht auf einem riesigen blauen Stoffballon liegt. Der Edamerkäse war der Kopf, der Stoffball der Rumpf ohne die Beine, diese verbarg der Tisch.
»In Straßburg engagiert?« schnaufte er. »Despine? Ja, ja, ich weiß, ich weiß. Hat die Prime touchiert und ist dann desertiert. Wann? Warten Sie. Heut haben wir Samstag, nicht wahr? Am Donnerstag wird die Prime ausbezahlt. 250 Fr. Am Abend war Ihr Despine verschwunden. Wir haben ihn bis jetzt nicht wiedergefunden, suchen Sie ihn selbst. Auf alle Fälle hat er sich nicht in Oran eingeschifft. Vielleicht weiß mein Sekretär Näheres... Vanagass!« rief er quäkend.
Vanagass war Sergeant und hatte O-Beine wie der Direktor des Hotels zum Wilden Mann.
»Gehen Sie mit dem Inspektor Fouché, er ist uns vom Kriegsminister empfohlen und sucht den Despine... Sie haben mir jedoch gesagt, daß Despine desertiert ist?«
»Desertiert! Zu Befehl, mein Colonel!«
»Gewöhnen Sie sich ein für allemal dieses blöde ›zu Befehl‹ ab! Despine ist nicht ›zu Befehl‹ desertiert! Wenn ich frage: ›Ist Despine desertiert?‹ so antworten Sie: ›Ja‹... Zu Befehl! Blödsinn!« Und der Colonel schnaufte erbittert.
»Ab! Abtreten! Beide abtreten! Ich hab' zu tun! Wenn ich wegen jedem Deserteur eine Viertelstunde verlieren sollte, wo käm' ich da hin? Ich bin ein beschäftigter Mann, Inspektor, teilen Sie dies dem Herrn Kriegsminister mit, wenn Sie ihn wieder aufsuchen... Vielleicht kennen Sie ihn gar nicht wieder, den Herrn Kriegsminister!« Studers Rücken wurde kalt. Hatte der Colonel ihn durchschaut? Ach nein! Er hatte nur einen Witz machen wollen, der dicke Boulet-Ducarreau, Kugel-von-der-Ecken konnte man den Namen übersetzen, denn er beendete seinen Satz – »Frankreich
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