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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Wachtmeister riß sich zusammen. Vorsicht! Worin hatte die Vorsicht zu bestehen? Er durfte nicht in die Heimat zurück – die Schweizer Paßkontrolle würde ihn ohne Anstände durchlassen. Aber wie sollte er die Schweiz verlassen? Die französische Kontrolle passieren mit einem falschen Ausweis? Riskant! Gefährlich!
    Es empfahl sich, dem Beispiel einiger Mitspieler in diesem verkachelten Falle zu folgen – und zu verschwinden. Studer schmerzte es, daß er nicht einmal seine Frau benachrichtigen konnte. Aber diesmal durfte er keine Unvorsichtigkeiten begehen, und eine solche wäre es gewesen, wenn er der französischen Post einen Brief anvertraut hätte...
    Er stieg in Belfort aus und übernachtete dort in einem Hotel mitten im Städtlein – nicht in der Nähe des Bahnhofes. Er kaufte einen neuen Koffer, einen steifen Hut, einen dunklen Mantel und ein Paar hohe gelbe Schnürschuhe mit starker Sohle. Dann ließ er sich bei einem Coiffeur den Schnurrbart abrasieren und die Haare, die an den Schläfen bedenklich weiß waren, schwarz färben. Die Polizeimarke wirkte Wunder. Der Coiffeur lächelte geschmeichelt und geheimnisvoll, der Hotelbesitzer nahm den Anmeldeschein schleunigst und unausgefüllt wieder mit. Studer hatte zwei Worte gesagt: »Politische Mission!« und den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. »Ich verstehe, verstehe gut!« hatte der Besitzer genau so geheimnisvoll erwidert.
    Dann fuhr der Berner Wachtmeister, der plötzlich ein Inspektor der französischen Polizei geworden war, weiter nach Bourg. Dort stieg er um und nahm eine Nebenlinie nach Bellegarde. In Bellegarde wartete er auf den Nachtzug, der von Genf über Grenoble direkt nach Port-Bou an die spanische Grenze führt. Einige Stationen vor Port-Bou lag jenes Port-Vendres, das der Unbekannte den Berner Gangstern angegeben hatte.
    Und in Bellegarde, während er auf den Schnellzug wartete, nahm Wachtmeister Studer Abschied von seinem treuesten Reisebegleiter: dem ramponierten Koffer aus Schweinsleder. Es war ein wortloser, aber inniger Abschied. Dinge haben oft mehr Herz als Menschen – der Koffer verzog alle Falten, die ein langer Gebrauch in sein Leder gegraben hatte. Aber er weinte nicht. Koffer weinen nicht. Koffer begnügen sich damit, kummer- und vorwurfsvoll dreinzublicken...
    Port-Vendres... Auf der einen Seite des Hafens, der nur ein großes Bassin ist, das faulig riecht, steht ein riesiges Hotel, das meistens leer steht. Auch hier wirkte die Erkennungsmarke Wunder. Doch nicht zu vergleichen war diese Wirkung mit jener, welche die Marke auf das kleine Fräulein im Postbureau ausübte.
    Studer trat an den Schalter, sagte mit jener Betonung, die er Madelin abgelauscht hatte: »Police!« – Hier müssen wir nachtragen, daß Studer das Französische ohne deutsche Färbung sprach – seine Mutter war in Nyon daheim gewesen..., und ließ die Marke in der hohlen Hand aufleuchten.
    Eifrig und beflissen nickte das schüchterne Fräulein, sie erhob sich halb von ihrem Stuhl und blieb so stehen, mit gebeugten Knien und schiefem Oberkörper...
    »Was kann... womit kann... ich dem Herrn Inspektor dienen?«
    »Ich möchte die Sendungen sehen, die in den letzten Wochen postlagernd eingetroffen sind«, sagte Studer und war genau so verlegen wie das Fräulein. »Ich meine die Sendungen, die noch nicht abgeholt worden sind, mein liebes Kind.«
    Das »liebe Kind« wurde rot, und das war eine Katastrophe. Denn die natürliche Röte ihrer Wangen wollte gar nicht zu der künstlichen ihrer Lippen passen.
    »Die... die... Poste-restante-Briefe... Ge... ge... gern, Herr Inspektor!«
    Fünf Briefe. »Vergißmeinnicht 28«, »Mimose 914«, »Einsames Veilchen im Frühlingswind«, »Rudolf Valentino 69« und – endlich! – »Port-Vendres 30-7«. Die Schrift!
    »Ich brauche diesen Brief!« Studer versuchte umsonst seiner Stimme Festigkeit zu geben, sie zitterte, aber das kleine Fräulein merkte es nicht. »Soll ich Ihnen Decharge geben?«
    »De... De... charge? Wenn Sie so freundlich wären... Eine Empfangsbestätigung, wenn ich bi... bi... tten dar He... Herr Inspektor!«
    Der Wind kam vom Meer. Er brachte Feuchtigkeit und einen ganz leisen Geruch nach Seetang und Fischen. Studer atmete tief. Dann riß er die Enveloppe auf.
»Lieber Vetter Jakob!
    Ich weiß, daß du den Brief erhalten wirst, denn du bist ein kluger Mann. Er ist wütend, daß der Überfall nicht gelungen ist, aber ich hab' lachen müssen. Die Panik ist vorbei – denn als ich dich anrief, hatte

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