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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Verschwinden ließ sich nicht so erklären, denn am Mittagstisch in der Offiziersmesse verkündete Kommandant Borotra freudig, Collani sei wohlbehalten in Gurama bei der berittenen Kompagnie des 3. Regimentes eingetroffen. Er habe diesen Morgen vom Befehlshaber des dortigen Postens, dem Capitaine Lartigue, Bericht erhalten. Collani behaupte, er wisse nicht, wo er die letzten Monate zugebracht habe und Lartigue glaube ihm dies. Er werde veranlassen, daß ein Arzt den Hellseherkorporal untersuche – und dann werde ihm die Entlassung winken. Auf Pension habe der Mann ohnehin Anspruch.
    »Existiert kein Bild von diesem Collani?«
    »Ich glaube nicht, Inspektor Fouché«, sagte Borotra. »Aber wir können ein gutes Signalement von ihm geben. Nicht wahr, meine Herren?«
    Drei Capitaines, zwei Leutnants und sechs Unterleutnants sagten im Chor:
    »Ja, mein Kommandant!«
    Und dann ging es zu wie bei einem Gesellschaftsspiel, in dem jeder Mitspieler ein Wort zu sagen hat – reihum.
    »Klein.« – »Mager.« – »Brustumfang 65.« – »Graue Haare.« – »Glattrasiert.« – »Abstehende Ohren.« – »Flach.« – »Rand fehlte.« – »Dünne Beine.« – »Haut olivenfarben.« – »Augen blau.«
    »Danke«, sagte Studer. »Das genügt. Wenn ich recht verstanden habe, so sind die Ohren abstehend, flach, ohne Rand?... Ja?... Danke nochmals. Und wie groß war Collani?«
    Ein kleiner Leutnant hob die Hand, wie in der Schule.
    »Mein Leutnant?«
    »1 Meter 61...«
    Im Winter schien nicht viel los zu sein in Géryville. Die Offiziere blieben bis halb vier Uhr sitzen. Sie ließen Studer nicht gehen. Er wurde als Fremdling gefeiert und mußte mittrinken. Er dankte Gott, daß keiner der Offiziere aus Lyon stammte. Aber schließlich, der Berner Fahnderwachtmeister, der unerlaubterweise den Namen eines französischen Polizeiministers des 1. Kaiserreiches führte, hätte sich vielleicht doch aus der Klemme gezogen...
    Endlich konnte Studer sich empfehlen. Er wollte den Mulatten Achmed besuchen, bei dem der Hellseherkorporal nach der Erzählung des Arztes allabendlich Kif geraucht hatte.
    Achmed, der Mulatte, war ein Riese, der sich ohne Scheu auf jedem Jahrmarkt für Geld hätte zeigen können. Seine Hautfarbe erinnerte an eine mit aller Sorgfalt zubereitete Jubiläumsschokolade schweizerischen Ursprungs...
    Er rauchte aus einer Pfeife, deren roter Tonkopf nur fingerhutgroß war, ein Kraut, dessen Rauch an den Geruch von Asthmazigaretten erinnerte. Er empfing Studer sitzend; wie ein morgenländischer König saß er auf einem Teppich, mit gekreuzten Beinen. Man vergaß das leere ärmliche Gemach und das grelle Licht, das eine Azetylenlampe im Raume verspritzte.
    Kein Mißtrauen dem fremden Besucher gegenüber... Eine stille, verhaltene Heiterkeit...
    Der Korporal Collani? Ein guter Freund. Sehr still, sehr schweigsam. Hatte sich an niemanden angeschlossen, darum kam er immer am Abend zu ihm, Achmed. Rauchte zwei Pfeifen Kif. »Nein, Inspektor, von diesem Quantum gibt es noch keinen Rausch! Was denken Sie!« Achmed sprach ein gewöhnliches Französisch und Studer hätte den Mann gern gefragt, wo er sich seine Bildung angeeignet habe. »Man schläft gut nach zwei Pfeifen«, erklärte Achmed. »Und der Korporal litt an Schlaflosigkeit. Er seufzte oft – nicht wie einer, den etwas bedrückt, sondern wie ein Mensch, der eine kostbare Perle verloren hat und sie überall sucht... Diesen Sommer war es besonders arg. Einmal hat er geweint, richtig geweint, wie ein kleines Kind, dem seine liebste Glaskugel gestohlen worden ist...«
    Ein Mulatte! Ein einfacher Mensch und ein armer dazu! Aber welch Verständnis und wie gut sprach er von den Regungen der Seele!
    »Ich hab' ihn zu trösten versucht«, fuhr Achmed fort, »hab' ihn gebeten, sich mir anzuvertrauen... Umsonst. Er wiederholte immer wieder: ›Wenn ich den Brief öffne, diesen Brief da!...‹ und zeigte ihn mir, ›dann überfällt mich die Vergangenheit – und er kommt mich holen!‹ – ›Wer kommt dich holen, Korporal?‹ wollte ich wissen. – ›Der Teufel, Achmed! Der alte Teufel! Ich hab' ihn getötet, den Teufel, aber der Teufel ist unsterblich, nie können wir wissen, wann er wieder aufwacht!...‹ Und so hat er den Brief fortgeschickt, am 20. Juli vorigen Jahres. ›Ich hatte noch eine Kopie dieses Briefes‹, erzählte er mir am nächsten Tage. ›Aber ich weiß nicht, wo diese Kopie ist. Ich habe meine Sachen durchsucht, aber sie ist nirgends zu finden... Es ist auch

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