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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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dem passenden Wort, es fiel ihm keins ein, so beendete er seinen Satz mit: »›... enträtseln. Ja.‹«
    Er schwieg und fingerte über die Oberlippe nach dem Schnurrbart, dessen Trüllen in schwierigen Unterredungen stets sein Beruhigungsmittel gewesen war, fand ihn nicht und nahm zu einem langanhaltenden Räuspern seine Zuflucht. Dann: »Außerdem – und ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, mon Capitaine – habe ich nicht nur die Interessen meines Staates zu vertreten, sondern auch die Interessen eines jungen Mädchens, dessen Vater hier in der Nähe... Doch ich glaube, dies würde wieder Ihr Gericht nicht interessieren. Und um auf besagtes Gericht zurückzukommen: Erstens würde ich also verlangen, als Vertreter meines Landes behandelt zu werden. Da dies wahrscheinlich nicht geschehen wird, so würde ich mir erlauben, den Notwehrparagraphen zu meinen Gunsten auszulegen. Zwei Browningpistolen enthalten sechzehn Schuß – falls ich noch rechnen kann.«
    »Bravo«, sagte Capitaine Lartigue. »Marie hat Sie richtig geschildert.«
    »Mar...«, begann Studer, aber da wurde er von einer Frauenstimme unterbrochen:
    »Gueten Abig, Vetter Jakob!«
    Studer ergriff die Flasche mit dem Dattelschnaps. Er schenkte sein Glas voll, leerte es, stellte es wieder ab.
    »Grüeß di, Meitschi!« Seine Stimme war ruhig.

Ein Morgen im Posten Gurama
    »Vetter Jakob«, fragte Marie, »hast du die Fieberkurve?« Studer nickte, nickte lange. Sein Kopf konnte nicht zur Ruhe kommen. Marie hatte sich auf das Ruhebett gesetzt, auf dem, vor gar nicht langer Zeit, der Capitaine, der Hund und die Gazelle in tiefem Schlaf gelegen waren. Und Studer hockte auf dem Stuhl, dessen bequemer Bau auch ihm Ruhe geschenkt und die Augen zugedrückt hatte. Auf dem Tischlein lag immer noch das Buch mit dem Vers:
    Der Himmel überm Dach
Ist still und leise...
    Aber die Anwesenheit Maries hatte die Stimmung im Zimmer verändert. Das Mädchen trug einen weißen Leinenschurz, wie er zur Uniform einer Krankenpflegerin gehört, ihre Haare waren eingehüllt in einen dünnen Schleier, dessen Leinenband ihre Stirn umspannte. Und mitten auf dem Leinenbande prangte ein rotes Kreuz. Sehr sittsam saß Marie auf dem Ruhebett, hatte die Hände gefaltet und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Neben ihr hockte Capitaine Lartigue in seiner verrumpfelten Khakiuniform, so weit nach hinten gelehnt, daß nur ein dunkelblaues Kissen seine Schulterblätter von der Wand trennte. Ihm zu Füßen waren der Hund und die Gazelle, ein braunschwarzes Wolleknäuel.
    Ja, die Fieberkurve habe er, sagte Studer und starrte auf den Boden... Das heißt, um ganz genau zu sein, er habe nur die Hälfte der Fieberkurve, die andere Hälfte liege wohlverwahrt in einem Notariatsbureau z'Bärn.
    Jetzt war es an Marie, zu nicken. Und sie tat dies auch. Ausgiebig und lange. Schließlich erkundigte sie sich, ob es in diesem Zimmer eigentlich gar keine Zigaretten gäbe? Der Vetter Jakob – l'oncle Jacques, sagte sie – rauche Pfeife, und sie?... Studer seufzte. Wie viele Namen mußte man sich in diesem verkachelten Fall gefallen lassen! Für Madelin war man »Stüdère«, für die Tanzlehrerin »Stiudaa«, für den Murmann »der Köbu«, auf dem Paß hieß man Joseph Fouché, und fürs Hedy war man der »Vatti«. Marie hatte einen »Vetter Jakob« getauft. Das ging noch an. Aber »Oncle Jacques«! Das war zuviel! Und während Capitaine Lartigue ein blaues Päckli, ähnlich dem, das im Schnellzug Paris-Basel neben dem damals noch unbekannten Meitschi gelegen hatte, aus einer seiner Taschen hervorzog und Marie von den Zigaretten anbot, kleidete Wachtmeister Studer von der Fahndungspolizei seinen stillen Protest in laute Worte. Und die Worte waren aus bernischem Stoff.
    Der Protest verhallte. Studer hatte den Eindruck, als spräche er zu zwei Puppen. Das gab einen kleinen schmerzhaften Stich. Lartigue sah Marie an und das Meitschi hatte nur Augen für den Capitaine. Und man war der »Oncle Jacques«... Es gab eine Redewendung im Französischen, die hieß: »faire le Jacques«, was sich am besten mit: »dr Löli sy« übersetzen ließ. Und der Wachtmeister kam von diesem dummen Wortspiel nicht los.
    Was ging diese beiden, dort auf dem Ruhebett, die Fieberkurve an! Was ging sie der Schatz bei der Korkeiche, am roten Mannfelsen an! Was kümmerte den Capitaine Lartigue, den Viehhändler, Postenchef, Hausvater, Strategen und Arzt, die Tragödie von zwei alten Frauen, die in ihren Küchen ein trostloses Ende

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