Die Fieberkurve
auf.
»Sie suchen nach dem Hellseherkorporal Collani, Inspektor... Nein, leugnen Sie's nicht ab!«... Lartigue ging zur kleinen Tür, die auf die Holzstiege führte, und pfiff. Drunten klapperten Schritte. Der Capitaine gab einen leisen Befehl, dann schloß er die Tür, ging zum offenen Kamin und hielt ein brennendes Zündholz unter das aufgeschichtete Holz. Ein Duft von Thymian breitete sich aus im Raum.
»Soll ich Licht anzünden? Oder genügt Ihnen der Mond?«
Studer nickte. Er konnte nicht sprechen. Der Capitaine schien die Stimmung seines Gastes zu verstehen, denn er füllte schweigend zwei Gläser mit einer wasserklaren Flüssigkeit. Studer trank. Es war verdammt stark, reizte zum Husten, aber gab warm...
»Dattelschnaps«, erklärte der Capitaine. »Der Jude, der mir die Schafherden liefert, hat mich mit drei Flaschen bestochen. Er hat recht daran getan, sonst hätte ich ihn zwei Monate lang Ziegel formen lassen, weil er mich mit seinen Schafen hineinlegen wollte. Sie hatten nur zwölf Kilo Lebendgewicht und das ist zu wenig... Aber das interessiert Sie wohl nicht, Herr Inspektor Jakob... pardon... Joseph Fouché...«
Doch!... Gerade diese Dinge interessierten den Berner Wachtmeister sehr. Was doch solch ein Postenchef alles können mußte! Er mußte Arzt sein, Viehhändler, Veterinär, Stratege, Bürgermeister, Postenchef, Hausvater...
»Wer ist eigentlich Ihr direkter Vorgesetzter, Capitaine?« fragte er. »Wem unterstehen Sie?«
»Ich?« Capitaine Lartigue schmunzelte – und hätte man das Schmunzeln gutmütig genannt, so wäre es eine Übertreibung gewesen. »lch?« wiederholte er. »Ich bin ein kleiner König. Mir hat niemand etwas zu sagen, außer dem Residenten in Fez. Offiziell gehört meine Kompagnie dem dritten Regiment an – aber sie gilt als Bataillon. Und der Oberst des dritten Regimentes ist viel zu weit weg... In Rabat, denken Sie... Vierhundert Kilometer Luftlinie. Ich bin also Bataillonschef, Platzkommandant, und auch das Land, das uns umgibt, ist mir untertan. Sie sehen also, lieber Inspektor – Fouché, ganz richtig – Sie sehen also, lieber Inspektor Joseph Fouché, merkwürdig übrigens, daß Sie wie der Polizeiminister des großen Kaisers heißen, daß mich nichts hindern könnte, kurzen Prozeß mit Ihnen zu machen.«
Das Schmunzeln – gutmütig oder nicht – war von den Lippen des Capitaines verschwunden. Der Mund war schmal, gerade, die Lippen ein wenig bleich.
»Wenn ich den Herrn, der den Namen eines französischen Ministers des Kaiserreichs trägt – mit Recht, wollen wir einmal annehmen, mit vollem Recht – wenn ich diesen Mann ganz einfach an die Wand stellte, niemand würde mich an dieser Säuberungsaktion hindern. Denn Sie werden zugeben, daß das Beiseitebringen eines Spiones sich Säuberungsaktion nennen darf... Um der Form Genüge zu tun, würde ich vielleicht ein kleines Kriegsgericht versammeln, bestehend aus einem Leutnant, zwei Sergeanten und zwei Korporalen. Fünf Mann – und einer mehr: Ich, Auditor und Gerichtspräsident in einer Person. Verteidigen dürften Sie sich selbst. Ich, Auditor und Präsident, würde also sprechen: ›Vor euch steht ein Mann, der in besetztem Gebiet mit einem falschen Passe reist. Ich verdächtige ihn der Spionage. Wir können augenblicklich niemanden entbehren, der ihn mit einer Eskorte nach Fez bringen könnte. Also müssen wir selbst das Urteil fällen. Und wir sind dazu befugt. Da es sich um Spionage handelt und ich die Beweise in öffentlicher Sitzung nicht beibringen darf – die Interessen Frankreichs stehen auf dem Spiel –, gibt es nur eins: den Tod.‹ Was würden Sie darauf antworten, Herr Inspektor Jakob – pardon – Joseph Fouché?«
»Darf ich mir eine Pfeife stopfen?« fragte Studer gelassen; sprach's, zog den Beutel aus der Tasche und begann ruhig den Tabak in den Kopf einzufüllen. Er drückte ihn gewissenhaft mit dem Daumen fest, stand auf, stand da, eine Weile, groß und schwer und breit, und ging mit gewichtigen Schritten zum Kamin, beugte sich nieder, nahm Reisig, an dem ein gelbes Flämmchen klebte, zündete das Kraut an, kehrte an seinen Platz zurück und blies Lartigue Rauchwolken ins Gesicht. »Hätte das Gericht dann meine erste Frage beantwortet, so würde ich fortfahren: ›Meine Herren! Es ist wahr, daß ich mit einem falschen Paß reise – aber ich habe nie Spionage getrieben. Ich bin ein Schweizer Polizist, der beauftragt worden ist, einen zweifachen Mord zu... zu...‹« Studer suchte nach
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