Die Fieberkurve
gefunden hatten? Dachten etwa zwei Verliebte an Dinge, bei denen jedem Kriminalisten das Herz höher schlägt, an den »Großen Fall« zum Beispiel? Studer seufzte, und da er, zugleich mit dem Seufzer, seine Pfeife auf dem Rande eines porzellanenen Aschenbechers ausklopfte, so blickten die beiden endlich doch zu ihm herüber. Es war Zeit.
»Wir wollen«, sagte Capitaine Lartigue, »die ernsten Geschäfte auf morgen verschieben. Sie sind müde heute, Herr Inspektor, wir werden zu Nacht essen, dann schlafen Sie einmal ordentlich aus und morgen werden wir sehen, wie wir am besten unsere Angelegenheiten regeln können.«
»Unsere Angelegenheiten«, hatte der junge welsche Schnuufer gesagt. Mira! Unsere Angelegenheiten!... Es war nur gut, daß zu diesen »unseren« Angelegenheiten das Nachtessen gehörte. Es war üppig, und gemütlich wurde es auch. Die Ordonnanz des Capitaine, ein Ungar mit einem Rübezahlbart, servierte.
Lammkoteletts. Risotto mit Hühnerleber garniert. Artischocken mit Mayonnaise. Salat. Käse. Dazu gab es einen Weißwein, der den Namen »Kébir« trug. Kébir, erklärte der Capitaine, heiße »Der Große«. Der Wein verdiente den Übernamen.
Das Feldbett war in einem leeren Offizierszimmer aufgeschlagen worden. Es war schmal. Aber das schadete nichts. Wachtmeister Studer schlief ein und er schlief tief. Als er erwachte und auf die Uhr blickte, die auf einem Stuhle neben seinem Bette tickte, war es fünf Uhr. Er stand auf und verließ sein Zimmer. Der Himmel war ein riesiges Tuch aus Rohseide, sehr hell, hie und da gefältelt – die Falten waren dunkler...
Zuerst schien es dem Wachtmeister, als sei der Posten so still wie ein Kirchhof. Fensterlos waren die niederen Baracken, über die sich, fast in der Mitte des Postens, der einstöckige Turm erhob. Fast lautlos ging Studer über den sandigen Boden, er hatte Lederpantoffeln angelegt, deren weiche Sohlen seine Schritte fast unhörbar machten. Er versuchte sich zu orientieren. Dort mußte der Ausgang liegen. Auf ihn ging er zu, er hatte im Sinn, den Posten zu verlassen und noch einmal nachzusehen bei der Korkeiche, ob wirklich nichts zu finden sei.
Da war der Ausgang. Auf einem Prellstein saß ein Legionär, hatte das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett neben sich an die Mauer gelehnt, den Kopf in beide Hände vergraben – und schlief. Rechts vom Eingang kauerte eine Baracke, sie glich so gar nicht den andern Baracken, obwohl sie eigentlich gebaut war wie die andern auch: weißgekalkt die Wände, das Dach aus Wellblech... Aber da waren zuerst zwei Türen, aus schweren Bohlen zusammengefügt, und starke eiserne Riegel waren daran angebracht. Die Enden der Riegel steckten in der Mauer. Und dann – das war das Auffällige! – die Baracke hatte Fenster. Zwei Fenster! Und die Fenster waren vergittert...
Die Wache am Tor schlief. Studer schlich sich an eins der Fenster. Es war etwas hoch angebracht, er mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, dann konnte er das Innere überschauen...
Eine Zelle... Schätzungsweise zwei Meter auf anderthalb. In der Ecke ein Zementblock in der Form eines Bettes. Auf dem Block saß ein Mann. Es war dunkel in der Zelle und darum ein wenig schwer zu erkennen, was der Mann tat. Studer beugte sich weiter vor, er gab sich Mühe, mit seinem Kopf keinen Schatten in die Zelle zu werfen. Er wußte selbst nicht, warum es ihm so notwendig schien, daß ihn der Mann nicht erblickte. Jetzt sah man es deutlich: der Mann hielt schmutzige Karten in der Hand, mischte sie, legte sie in einem Päckli neben sich, hob ab – und dann begann er sie reihenweise auszulegen...
Vier Reihen legte er, das war deutlich zu sehen. Vier Reihen zu neun Karten. Dann schüttelte der Mann den Kopf, schob die Karten zusammen, mischte wieder, hob ab – mit der linken Hand – und spielte sein einsames Spiel anders:
Er zog drei Karten ab, sonderte eine aus, warf zwei beiseite. Nahm wieder drei Karten, blickte sie an, warf sie alle drei beiseite. Nahm wieder drei, behielt von diesen dreien eine und warf zwei zum begonnenen Haufen. So fuhr er fort, bis seine Hand leer war. Dann nahm er die beiseitegeworfenen Karten, mischte sie, hob ab und begann das Spiel von neuem. Die ausgesonderten Karten bildeten eine merkwürdige Zeichnung – ein Kreuz, hätte man meinen können.
Immer noch schlief die sitzende Wache am Eingangstor. Aber der Posten war nicht mehr stumm. Aus der Ferne dröhnten Pfannen, die gegeneinandergeschlagen wurden. Unsichtbare Hände zogen
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