Die Fieberkurve
Sohlen weiterstampfen. Marie hielt ihn am Ärmel fest: er möge entschuldigen, sie habe es nicht bös gemeint. Es sei überhaupt alles anders gekommen als sie gedacht habe. Sie habe gemeint, erst viel später nach Gurama kommen zu können, sie habe gehofft, ihren Onkel Matthias, den »Weißen Vater«, schon hier anzutreffen – aber, wie es eben immer gehe auf dieser Welt, Pater Matthias sei erst diese Nacht angekommen. Sehr spät übrigens, gegen ein Uhr. Darum habe sie den Capitaine gebeten, den Vetter Jakob nicht im Schlaf zu stören...
Marie verstummte, ganz erschreckt. Studer hatte sie an beiden Oberarmen gepackt, er hielt sie fest, starrte ihr ins Gesicht, und als Marie ängstlich fragte, was denn los sei, stand sie in einem Kreuzfeuer von Fragen, von leise, aber so zwingend gestellten Fragen, daß ihr ganz schwindelig wurde.
»Denk nach! Denk genau nach! Wie oft ist Pater Matthias deinen Vater besuchen kommen?«
»Aber nie, niemals!«
»Warum?«
»Weil der Onkel Matthias zur katholischen Religion übergetreten ist.«
»Das ist kein Grund.«
»Ich weiß keinen anderen!«
»Wie alt warst du damals, als der Briefträger den Chargébrief gebracht hat?«
»Acht Jahre.«
»Bischt sicher?«
»Ja doch!«
»Wann bist du geboren?«
»Neunzehnhundertneun!«
»Sicher?«
»Eh ja!«
Schweigen, ganz kurz nur. Studer sah die Küche in der Gerechtigkeitsgasse, sah den Pater sein Scheschiaspiel spielen. Er hörte sich fragen: »Wann hat sich Ihr Bruder scheiden lassen? – Antwort: »1908. Im nächsten Jahr hat er wieder geheiratet. 1910 ist Marie geboren worden...«
Neunzehnhundertzehn! Da brauchte man nicht das neue Ringbuch vom Hedy, das stand eingegraben im Schädel! Neunzehnhundertzehn! Und was sagte Marie, die es doch wissen mußte? Marie sagte: 1909. – Irrtum des Paters? Versprechen? So arg verspricht man sich nicht.
»Gut. Neunzehnhundertneun. Wann hast du deinen Onkel zum erstenmal gesehen?«
»Nach Vaters Tod.«
»Im gleichen Jahr?«
»Ich glaub'.«
»Sicher bist nicht?«
»Nei... ein.«
»Einmal, zweimal, öfters?«
»Alle Jahre einmal.«
»Regelmäßig, bis in die letzte Zeit?«
»Nein. Vor fünf Jahren haben die Besuche aufgehört. Dann sind noch Briefe gekommen.«
»Ist der Mutter an den Briefen nichts aufgefallen?«
»Doch. Sie hat einmal gemeint, man merke es, daß der Matthias alt werde. Seine Schrift werde so zittrig.«
Die Eintragung im Gästebuch vom Hotel zum Wilden Mann war gar nicht zittrig! Item... Weiter...
»Und du hast den Onkel wiedererkannt, gleich wiedererkannt, als er dich in Paris aufgesucht hat?«
»Er... er... ist...«
»So red doch, Meitschi!«
»Er ist mir nicht recht bekannt vorgekommen. Der Onkel Matthias, den ich in der Erinnerung gehabt hab', der war größer. Und auch sein Gesicht war ein wenig anders...«
»Wo hat die Mutter die Briefe vom Onkel Matthias aufbewahrt?«
»Bei den Andenken vom Vater.«
Studer ließ Marie so plötzlich los, daß das Mädchen ein wenig schwankte. Aber dann stand es wieder fest auf den Füßen und blickte erstaunt den Wachtmeister an. Sein Gesicht hatte sich verändert, und die Veränderung hatte folgenden Grund: Es soll einmal jemand versuchen, mit lächelndem Munde zu pfeifen und sich dann die Grimasse im Spiegel zu beschauen, die bei einem derartigen Versuch herauskommt. Die Grimasse wirkte auch auf Marie. Sie begann zu lachen.
»Lach du nur, Meitschi! Im Amtshaus z'Bärn sagen sie alle, dr Köbu spinnt. Wir wollen ihnen zeigen, ob der Köbu spinnt! Wie ist es mit dem Capitaine? Seid ihr versprochen? Ja? Und er mag dich? Dumme Frag'«, antwortete sich Studer selber. »Wer soll dich nicht gern haben, Meitschi!«
Marie wurde nicht rot, sie spielte nicht verschämt mit ihrem Schürzenzipfel, sie brauchte auch nicht den Schleier. Sie sagte:
»Wenn Ihr mich gern mögt, Vetter Jakob, und der Louis mag mich, was brauch' ich da mehr? Die anderen?...« Sie zuckte die Achseln. Und Studer meinte trocken, das sei schön, daß Marie ihn noch vor dem Verlobten genannt habe... Es werde schon gut kommen. Nur keinen Kummer!...
Kummer habe sie keinen, sagte Marie. Wenigstens für sich nicht. Aber ob der Vetter Jakob nichts riskiere? Er solle bedenken, daß er allein in fremdem Lande sei, sie habe da etwas vernommen von einem Schatz, ob es nicht besser sei, das alles sein zu lassen. Schließlich, wenn sie den Louis heirate, dann lange dem sein Sold schon für sie beide... Und allzuviel Geld? Das schade nur. Das mache nur böse und
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