Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
Vom Netzwerk:
Wochenenden fuhr er nach Oxford, an anderen nach Nottingham, zog ins beste Hotel, das er finden konnte, und spendierte wahre Festgelage. Da er zu diesen Gelegenheiten nie eine Frau mitnahm, fand er, dass er sich moralisch einwandfrei benahm, besonders damals, als er in Oxfordshire in Raymond Blancs Landhaus Aux Quat’Saisons abstieg, ein lauschig-mauschliges Hotelrestaurant, das geradezu nach einer Geliebten schrie. Aber versprochen war versprochen. Für ihn kamen die Kinder an erster Stelle.
    Er mochte seine Kinder. Sie erinnerten ihn, jedes auf eigene Weise, an seine arme Frau – zwei gewitzte, nervöse, hitzköpfige Jungen, ein gnadenlos kritisches Mädchen. Keines hatte sich für Philosophie entschieden. Das freute ihn. Blaise studierte Jura. Der unbeständigere Immanuel hatte von Architektur zu Sprachen gewechselt und schien entschlossen, es sich noch einmal anders zu überlegen. Jerome war Ingenieur. »Ich bin stolz auf dich«, hatte Finkler ihm gesagt. »Ein schöner, unjüdischer Beruf.«
    »Woher willst du wissen, dass ich nach meinem Abschluss nicht nach Israel fahre, um dort Mauern zu bauen?«, hatte ihn der Junge gefragt. Sein Vater zog ein so erschrockenes Gesicht, dass Jerome ihm erklären musste, es sei doch nur ein Scherz gewesen.
    Beide Jungen hatten Freundinnen, denen sie, soweit er wusste, gewissenhaft treu blieben. Blaise war ungebunden und auch ungebärdiger. Genau wie ihre Mutter. Jerome wusste nicht genau, ob er die Richtige schon gefunden hatte. Immanuel
dagegen glaubte es zu wissen. Er wünschte sich eigene Kinder. Finkler sah ihn schon, wie er den Nachwuchs durchs Ashmolean-Museum schob, sich über den Kinderwagen beugte, dieses oder jenes erklärte, von den kleinen Wesen ganz hin und weg. Der neue Mann. Finkler war es nie so richtig gelungen, diese Art Vater zu sein. Dafür gab es, von den Kindern, aber auch seiner Frau mal abgesehen, einfach zu vieles, was ihn interessierte. Jetzt versuchte er, ein wenig wieder gutzumachen.
    Was, wenn er zu spät kam? Wenn seine Pflichtvergessenheit irgendwie an diesem Überfall schuld war? Hatte er seine Kinder allzu schutzlos zurückgelassen, zu unfähig, auf sich aufzupassen, zu sorglos gegenüber den Gefahren?
    Und dann war da noch dieses Gespräch beim Abendessen gewesen. Mitleidlos hatte er sich die Geschichte von dem Jungen angehört, der nur, weil er Jude war, das Augenlicht verloren hatte. Hieß das nicht die Vorsehung herausfordern? Finkler fand solche Überlegungen eigentlich unbegründet, trotzdem quälten sie ihn. Hatte er den jüdischen Gott zum Schlimmsten provoziert? Und hatte sich dieser jüdische Gott zum ersten Mal seit wer weiß wie vielen Tausend Jahren aufgerafft und die Herausforderung angenommen? Ihm kam ein schrecklicher Gedanke: Hatte Immanuel das Augenlicht verloren?
    Schrecklicher noch: War er daran schuld?
    Der Rationalist und Spieler Finkler schloss unter Tränen einen Pakt. War Immanuel ernstlich verletzt, würde er den ASCHandjiddn sagen, wohin sie es sich stecken konnten. Und wenn er nicht ernstlich verletzt war …?
    Finkler wusste es nicht.
    Es hatte keinen Sinn, die ASCHandjiddn da mit hineinzuziehen. Ihnen konnte man nichts vorwerfen. Sie waren einfach nur da. So wie Antisemiten einfach nur da waren. Aber mit Urängsten konnte man kein falsches Spiel treiben. Während er in der Wagenecke hockte und sich nichts sehnlicher wünschte,
als endlich anzukommen, war er sich plötzlich unsicher, ob er es noch entschuldbar fand, das Wort Jude in der Öffentlichkeit zu benutzen. War dieses Wort nach allem Geschehenen nicht bloß noch ein Wort für den Privatgebrauch? Draußen in der irrsinnigen Welt stachelte es jedenfalls zu jeder Spielart von Gewalt und Extremismus auf.
    Es war das Passwort für den Wahnsinn. Jude. Ein kleines Wort ohne ein Versteck für die Vernunft. Sag »Jude«, und es war, als würfe man eine Bombe.
    Hatte Immanuel mit seinem Judentum geprahlt? Und wenn ja, warum? Um es ihm, Finkler, heimzuzahlen? Um zum Ausdruck zu bringen, wie enttäuscht er von ihm war? Mein Vater mag es ja a Schand finden, Jude zu sein, aber verdammt, das finde ich nicht! Und dann rumms!
    Alles fiel auf ihn zurück. Wie man es auch drehte und wendete, er war schuld. Schlechter Ehemann, schlechter Vater, schlechtes Beispiel, schlechter Jude – was folglich auch hieß: schlechter Philosoph.
    Aber das war doch wohl kaum mehr als ein Aberglaube, oder nicht? Er war Amoralist aus Prinzip. Man tat, was man tat, und dort draußen existierte

Weitere Kostenlose Bücher