Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
orakelhaftem Ton erklärte er: »Das Enkelkind einer Bekannten hat gerade sein Augenlicht verloren.«
Finkler war sich unsicher, was er mit seinem Gesicht anstellen sollte. Wollte man ihn veräppeln? Und?, hätte er am liebsten gefragt, was hat das jetzt mit unserem Gespräch zu tun?
»Ach nein, Libor, wer denn?«, fragte Hephzibah.
»Du kennst weder Enkel noch Großmutter.«
»Und was ist passiert?«
Also erzählte Libor, was vorgefallen war, ließ aber aus, dass er und Emmy in einem anderen Leben ein Paar gewesen waren.
»Und das«, sagte Finkler, »führst du als Grund dafür an, dass es in jedem Sprengel unseres Landes ein Holocaust-Museum geben sollte?«
»Mir fällt auf, dass du von Sprengel redest«, sagte Treslove. »Deine satirische Frage bekennt sich zu einem Missverhältnis, das sich allein mit der christlichen Ungastlichkeit gegenüber Juden erklären lässt.«
»Ach, Scheiße, Julian. Meine satirische Frage, wie du sie nennst, bekennt nichts dergleichen. Mir ist nicht entgangen, wie mitgenommen Libor aussieht. Und ohne seine Gefühle damit respektlos übergehen zu wollen, rechtfertigen die Taten eines einzelnen Gestörten doch wohl kaum, dass wir händeringend behaupten, die Nazis seien zurück.«
»Nein, das will ich auch gar nicht behaupten«, wandte Libor ein.
Hephzibah stand auf, ging zu ihm, stellte sich hinter seinen Stuhl und schmiegte ihre Hände an seine Wangen, als sei er ein kleiner Junge. Ihre Ringe waren größer als seine Ohren. Libor lehnte sich zurück. Hephzibah drückte ihre Lippen auf seinen kahlen Kopf. Und Treslove fürchtete, der alte Mann könnte in Tränen ausbrechen, aber das lag vielleicht bloß daran, dass er Angst hatte, gleich selbst weinen zu müssen.
»Mir geht es gut«, sagte Libor. »Nur macht mich die eigene Machtlosigkeit ebenso wütend wie das, was dem Enkel meiner Bekannten passiert ist, obwohl ich den Jungen weder kenne noch bis vor zwei Monaten überhaupt von seiner Existenz gewusst habe.«
»Tja, kann man nichts machen«, sagte Hephzibah.
»Weiß ich doch. Aber mich regt nicht nur auf, dass ich nichts machen kann, sondern auch, dass es mich kaltlässt und ich nichts fühle.«
»Vielleicht«, sagte Finkler, »fühlen wir genau deshalb nichts, weil wir unsere Gefühle zu diesem Thema allzu bereitwillig und allzu oft zur Schau stellen.«
»Du meinst, wir warnen allzu oft vorm bösen Wolfowitz?«, warf Hephzibah mit einem wilden Lachen ein.
Gott, ich liebe sie, dachte Treslove.
»Meinst du nicht?«, hakte Finkler nach.
»Ich glaube, das können wir gar nicht.«
»Du glaubst nicht, dass irgendwann niemand mehr reagiert, wenn man zu oft falschen Alarm auslöst?«
»Gab es denn je falschen Alarm?«, wollte Hephzibah wissen.
Treslove merkte Finkler an, dass er sich überlegte, ob er sagen sollte: »Immer dann, wenn ihn unser Freund Julian auslöst. « Stattdessen sagte er: »Mir scheint, wir schaffen ein Klima unnötiger Angst, weil wir uns a) ständig als Opfer der Ereignisse sehen, und weil wir b) nicht begreifen, warum manche Leute gelegentlich finden, dass sie allen Grund haben, uns nicht zu mögen.«
»Weshalb sie unseren Kindern die Augen ausstechen«, erwiderte Hephzibah, deren Hände immer noch auf Libors Gesicht ruhten.
Libor legte seine Hände über ihre, als wolle er nichts mehr hören, um dann den sensiblen Filmregisseur zu imitieren: »Und behaupten: Antisemitismus kann ich sehr gut verstehen.«
»Also ist es dann bald wieder so weit«, sagte Hephzibah.
Finkler schüttelte den Kopf, als könnte er mit ihnen allen einfach nichts anfangen. »Deshalb ist euer Museum der anglojüdischen Kultur letztlich eben doch ein Holocaust-Museum«, sagte er.
Der jutz , dachte Treslove. Dieser grojser putz , dieses schtik drek .
Finkler und Libor tranken Whisky, während sich Treslove und Hephzibah um den Abwasch kümmerten. Normalerweise ließ Hephzibah das Geschirr bis zum nächsten Tag stehen, stapelte es im Waschbecken, bis man den Wasserkessel nicht mehr füllen konnte, und was nicht ins Becken passte, blieb auf dem Küchentisch. Töpfe und Besteck für hundert Gäste. Treslove gefiel das. Sie hielt nichts davon, nach jeder Ausschweifung gleich aufzuräumen. Für Vergnügungen musste man keinen Preis zahlen.
Und das Geschirr blieb auch nicht auf dem Tisch, damit er den Abwasch machte. Sie ließ es einfach stehen. Er fand das fatalistisch, eine Sorglosigkeit, die sie wohl von den Kosaken
geerbt hatte. Warum sich ums Geschirr sorgen, wenn man
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