Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
werden gerade von einer Kamera gefilmt. Wir alle, hoffe ich.«
»Warum das, Alfredo?«
»Weil wir so ein verlogener Haufen von Gaunern und Betrügern sind.«
»Eine ziemlich bittere Analyse. Hat dir gerade jemand einen Anlass dafür gegeben?«
»Ja, mein Vater.«
»Dein Vater? Was hat der denn angestellt.«
»Du meinst wohl, was hat er nicht angestellt.«
Finkler fürchtete, Alfredo könnte vornüberfallen, so unsicher stand er auf den Beinen.
»Ich dachte, du würdest dich mit deinem Vater verstehen. Warst du nicht erst vor Kurzem mit ihm in Urlaub?«
»Das ist schon ewig her. Und seitdem kein Wort mehr, dabei habe ich gehört, er sei zu einer Frau gezogen.«
»Zu Hephzibah, ja. Wundert mich, dass er dir nichts davon erzählt hat. Wird er sicher noch. Willst du aus diesem Grund mehr Kameras in den Straßen? Weil die ihn dann beim Umzug gefilmt hätten?«
»Mein Grund, Onkel Sam, mein Grund, wie du es nennst, ist der, dass mein Vater, wie du ihn nennst, erst meine Freundschaft will und dann plötzlich kein Wort mehr mit mir redet.«
Finkler überlegte, ob er Alfredo sagen sollte, dass er genau wisse, was er meine, aber mit einem Mal passte es ihm nicht länger, den Ersatzvater zu spielen. Sollte Julian sich doch selbst um seine Jungen kümmern. »Julian ist mit dem Kopf gerade ganz woanders«, sagte er.
»Sicher in seiner Hose, nach all dem, was ich so höre.«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Finkler.
»Ich auch.« Als wollte Alfredo »Ich komme ja schon« sagen, nickte er einer Gruppe junger Männer zu, von denen, wenn Finkler sich nicht täuschte, mindestens zwei Palästinensertücher
trugen, auch wenn das heutzutage schwer zu sagen war, da viele Modeschals ähnlich aussahen und auch ähnlich getragen wurden.
Er fragte sich, ob es tagsüber eine Demonstration am Trafalgar Square gegeben hatte. Sollte das der Fall gewesen sein, wunderte es ihn, dass er nicht als Sprecher eingeladen worden war.
»Dann bis zum nächsten Mal«, sagte er. »Wo spielst du gerade?«
»Hier und da und überall.« Er griff nach Finklers Hand und zog ihn zu sich. »Hör mal, Onkel Sam, du bist doch sein Freund. Was hat es eigentlich mit diesem ganzen Judenschiet auf sich?«
Undeutlich wie er sprach, klang »Judenschiet« fast wie »Jesuit«, ein Wort, das Alfredo selbst in nüchternem Zustand kaum gekannt haben dürfte. Außerdem wusste er offenbar nicht – oder er hatte es vergessen –, dass Finkler selbst zu diesem Judenschiet gehörte.
»Warum fragst du ihn nicht selbst?«
»Nein, hör doch mal – ich meine so überhaupt. Ich hab gelesen, dass eigentlich nichts davon passiert sein soll, wenn du verstehst, was ich meine …«
»Wie? Was soll nicht passiert sein, Alfredo?«
»Der ganze Schiet. Die Lager und das. Eine große Lüge.«
»Und wo hast du das gelesen?«
»In Büchern, weißt du. Und Freunde haben’s mir erzählt. Da ist dieser Boogie-Woogie-Drummer, mit dem ich zusammen spiele.« Für den Fall, dass Finkler nicht wusste, was ein Schlagzeuger tat, machte Alfredo mit zwei imaginierten Sticks den Luft-Drummer. »Ist alles Blödsinn, behauptet der. Und warum sollte er so was sagen, wenn’s nicht die Wahrheit ist? Immerhin war er Soldat in der israelischen Armee oder irgendso’n Scheiß, und jetzt drischt er auf das Fell wie Gene Krupa. Nichts als Blödsinn und Lügen sagt er, nur damit wir nicht genauer hinsehen.«
»Damit wir wo nicht genauer hinsehen?«
»Was die da drüben treiben. Konzentrationslager und den ganzen Mist.«
»Konzentrationslager? Wo sind Konzentrationslager?«
»Überall, was weiß ich. Und Nazis, die verdammten Gaskammern, nur ist das ja alles nicht passiert, oder?«
»Wo passiert?«
»In Israel, Deutschland, Scheiße, weiß ich doch nicht. Ist alles bloß …«
»Ich muss jetzt wirklich«, sagte Finkler und machte sich von ihm los. »Sonst komme ich noch zu spät zu meinem Produzenten. Aber pass auf, glaub nicht alles, was dir irgendwelche Leute erzählen.«
»Was glaubst du denn, Onkel Sam?«
»Ich? Ich glaube daran, an nichts zu glauben.«
Alfredo tat, als wollte er ihn küssen. »Dann sind wir schon zwei. Ich glaube auch daran, an nichts zu glauben. Ist doch alles Blödsinn. Genau wie dieser Wahnsinnstrommler gesagt hat.«
Erneut ließ er die Sticks durch die Luft wirbeln.
Finkler fuhr mit dem Taxi nach Hause.
3
Eigenartig, dachte Treslove, wie gut man einen Menschen durch einen Namen, ein Wort und einige Fotografien von seinem Penis zu kennen glaubt.
Allerdings
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