Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
sie und wandte sich von ihm ab, da sie ihn nicht ermuntern wollte, sich noch weiter mit diesem Thema zu beschäftigen.
»Also …?«
Ja, genau.«
»Und doch erhält dieser Alvin Poliakov lobende Worte, die zumindest dem Anschein nach von Palästinensern stammen.«
»Woher weißt du das?«
»Er zitiert sie.«
»Du musst nicht immer glauben, Darling, was man im Internet lesen kann. Aber selbst wenn das Lob echt ist, wäre es verständlich.
Wir drücken doch alle mal ein Auge zu, um das eine zugunsten des anderen zu übersehen. Und wir reden hier von ziemlich verzweifelten Menschen.«
»Ist nicht jeder verzweifelt?«
Sie bat ihn, die Augen zu schließen. Dann küsste sie ihn auf die Lider.
» Du nicht.«
Er dachte nach. Nein, er war nicht verzweifelt. Aber er war aufgebracht.
»Ziemlich verrückt, die ganze Sache«, sagte er. »Man fühlt sich dabei so unsicher.«
» Du ? Unsicher ?«
»Wir sind doch alle nicht sicher. Was ist, wenn sich Ideen wie Krankheitserreger verbreiten? Was, wenn wir uns anstecken? Dieser Alvin Poliakov – ist er nicht irgendwann mal angesteckt worden?«
»Denk nicht mehr dran«, sagte sie, begann mit der Vorbereitung des Abendessens und stellte Töpfe auf den Herd. »Der Kerl ist meschugge.«
»Wie könnte ich nicht mehr daran denken? Ob meschugge oder nicht, dieses Zeugs breitet sich aus. Es kommt irgendwo her, geht irgendwo hin. Meinungen verfliegen nicht einfach. Sie bleiben im Universum.«
»Ich denke nicht, dass das stimmt. Als Gesellschaft glauben wir heute nicht mehr, was gestern noch galt. Wir haben die Sklaverei abgeschafft. Frauen haben das Stimmrecht erhalten. Und wir veranstalten auf den Straßen keine Bärenkämpfe mehr.«
»Und was ist mit Juden?«
»Ach, Darling, die Juden!«
Mit diesen Worten küsste sie ihn erneut auf die wieder geschlossenen Lider.
4
Sie hatte ihn gern. Sie hatte ihn wirklich gern. Für sie bedeutete er eine Abwechslung. Es schien ihm am nötigen Ehrgeiz zu fehlen, ein Mangel, den sie von ihren Ehemännern nicht kannte. Er hörte zu, wenn sie redete, was die anderen nie getan hatten. Und er wollte anscheinend so viel wie nur möglich um sie sein, ließ sie morgens nicht aus dem Bett, nicht wegen Sex – nicht nur wegen Sex –, und folgte ihr durch die Wohnung, wenn sie sich zu Hause aufhielt, was lästig sein könnte, es aber nicht war.
Allerdings neigte er zu spontaner Schwermut, was ihr einige Sorgen bereitete. Mehr noch, ihn hungerte geradezu nach Schwermut, so als gäbe es in ihm selbst davon nicht genug, weshalb er sie bei ihr aufsaugen musste. War das im Grunde alles, worum es ihm bei seiner Faszination fürs Jüdische letztlich ging, fragte sie sich, diese Suche nach einer Identität, die über mehr tief sitzenden Trübsinn verfügte, als er mit seinem Genpool aufzubringen vermochte? Wollte er die ganze verdammte jüdische Katastrophe?
Er wäre natürlich nicht der Erste. Man konnte die Welt einteilen in solche, die Juden töten, und in solche, die Juden sein wollten. Die schlimmen Zeiten waren die, in denen die Ersteren die Letzteren überwogen.
Aber irgendwie war es auch ganz schön frech. Richtige Juden mussten leiden für ihr Leid, doch dieser Julian Treslove meinte, er könne aufs Karussell hüpfen, wann immer ihm danach war, und dürfe sich auf Anhieb schlecht fühlen.
Sie argwöhnte sogar, dass er Juden gar nicht so gern hatte, wie er stets behauptete. An seiner Zuneigung für sie selbst hegte sie allerdings keinen Zweifel. Er schlief an sie gepresst und küsste sie dankbar in der Sekunde, in der er aufwachte. Nur konnte sie nicht die Totaljüdin sein, die er sich wünschte. Zumindest
war sie dafür ihrer Ansicht nach nicht jüdisch genug. Sie schlug morgens nicht die Augen auf und rief der Welt zu: Hallo, hier kommt ein neuer jüdischer Tag, was, wie ihr Gefühl sagte, Julian am liebsten von ihr gehört hätte und hoffte, bald aus eigener Überzeugung sagen zu können. Hallo, hier kommt ein neuer jüdischer Tag, bloß …
In diesem »bloß« klang die Hälfte dessen an, womit sie ihn auf sein Drängen hin vertraut machte. »Ich will das Ritual«, hatte er gesagt, »ich will die Familie, das ganz alltägliche Ticktack des jüdischen Tags«, doch kaum bot sie es ihm, zog er sich zurück. Sie hatte ihn mit in die Synagoge genommen – natürlich nicht in die Synagoge nebenan, wo sie zum Gebet PLO-Tücher trugen –, und es hatte ihm nicht gefallen. »Die danken Gott doch nur ständig dafür, dass er sie geschaffen hat«,
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