Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
aber ist noch größer in der Höhe.«
Er meinte, es stünden dort weniger verstreute Holzkreuze, als er in Erinnerung hatte. Dabei müssten es doch eigentlich mehr sein. Falls sie nicht nach einer schicklichen Zeitspanne wieder entfernt wurden.
Wie lang war eine schickliche Zeitspanne?
Allerdings hing am rostigen Stacheldraht auch wieder ein Blumenstrauß. Dieser war bei Marks & Spencer gekauft worden, das Preisschild noch zu sehen. Vier Pfund neunundneunzig Pence. Na, dachte er, da hat aber jemand tief in die Tasche gegriffen.
Die Gegend war nicht gerade einsam. Ein Bus hatte eine Schar Pensionäre ausgespuckt. Spaziergänger führten ihren Hund aus, Kinder ließen Drachen fliegen. Lugten über den Rand in die Tiefe. Schauderten. Ein Tramperpärchen grüßte. Trotzdem war es sehr still, der Wind blies die Stimmen über den Abgrund. Er hörte ein Schaf. »Määä.« Vielleicht war es auch eine Möwe. Und er erinnerte sich an seine Heimat.
Es gab nichts, das Malkies eigenwillige Ansicht bestätigt hätte, dass ihr geliebter Gatte unzumutbar lange brauchen würde, um den Grund zu erreichen. Trotz ihrer festen Überzeugung, einen außergewöhnlichen Menschen geheiratet zu haben, flog er nicht und schwebte auch nicht. Er stürzte so steil hinab wie alle anderen.
4
Dass Alfredo im Zug nach Eastbourne Libor gegenübergesessen hatte, erfuhr Treslove von Alfredos Mutter. Alfredo hatte Libors Bild in den South-East-Nachrichten gesehen – ehemaliger Journalist stürzt sich in den Tod, Beachy Heads dritter Selbstmord in diesem Monat – und sich an den Hundertjährigen erinnert, mit dem er im Zug geredet hatte. Das erzählte er seiner
Mutter, die sich ihrerseits die Mühe machte, Treslove davon zu berichten, als sie den Namen des Toten in der Zeitung las und in ihm einen Freund des Vaters ihres Sohnes erkannte.
»Seltsamer Zufall«, sagte sie in ebenjenem BBC-Ton, mit dem sie am Radio auch ein Floß voller Ideen präsentierte oder Tresloves Verstand anzweifelte.
»Wieso seltsam?«
»Alfredo und dein Freund, beide im selben Zug.«
»Das ist ein Zufall. Und was ist daran seltsam?«
»Zwei Leute aus deiner Vergangenheit, die sich treffen.«
»Libor gehört nicht zu meiner Vergangenheit.«
»Alle deine Bekannten gehören zu deiner Vergangenheit, Julian. Dahin schiebst du sie ab.«
»Du kannst mich«, erwiderte Treslove und legte auf.
Zum Glück hatte er nicht auf diese Weise von Libors Tod erfahren. Ansonsten hätte er wohl nicht gewusst, was er Alfredo und Josephine Grausames angetan hätte. Er wollte ihre Namen nicht im selben Atemzug oder im selben Satz wie den armen Libor erwähnt wissen, wollte sich nicht einmal vorstellen, dass sie zur selben Zeit existiert hatten. Sein Junge, dieser Volltrottel, hätte merken müssen, dass irgendwas nicht stimmte, hätte den alten Mann in ein Gespräch verwickeln, jemandem Bescheid geben müssen. Das war schließlich nicht irgendein x-beliebiger Zug. Man sah sich doch die Leute genau an, die ohne Begleitung nach Eastbourne fuhren, denn letztlich gab es nur einen einzigen Grund, warum man allein dort hinfuhr.
Ähnliches dachte er über den Taxifahrer. Wer bringt schon einen einsamen alten Mann an eine bekannte Selbstmordstelle und lässt ihn dort allein? Eine Stunde, nachdem er Libor abgesetzt hatte, war dem Taxifahrer dieser Gedanke auch gekommen, weshalb er die Polizei benachrichtigte, doch war es da bereits zu spät. Treslove fand diese Vorstellung übrigens genauso schlimm wie alles andere – dass sein Freund die letzte Stunde auf Erden
damit verbracht hatte, dem Kretin Alfredo mit seinem runden Filzhut gegenüberzusitzen und sich mit einem hirntoten Taxifahrer aus Eastbourne über das Wetter zu unterhalten.
Er musste aufhören, anderen Leuten Vorwürfe zu machen. Aus mehr Gründen, als er aufzuzählen vermochte, war er selbst schuld. Er hatte Libor in den letzten Monaten zu sehr vernachlässigt, hatte bloß an sich selbst gedacht. Und wenn er bei ihm gewesen war, dann nur, um über sexuelle Eifersucht zu reden. Man redet aber nicht über sexuelle Eifersucht – besitzt man auch nur einen Funken Anstand oder Diskretion im Leib, redet man mit einem alten Mann, der erst kürzlich die Liebe seines Lebens verloren hat, nicht über was Sexuelles. Das war widerlich. Und noch widerlicher war es – schlimmer als widerlich, schon fast brutal –, Libor das Wissen um seine Affäre mit Tyler aufzubürden. Dieses Geheimnis hätte Treslove mit ins Grab nehmen müssen, so wie
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