Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
ihre Stimme zu hören. Was hätte er dafür gegeben, nun in ihren mittlerweile vernachlässigten Garten zu gehen und einen Finger auf die grüne Schnur zu legen, damit sie mit seiner Hilfe einen Knoten schlug.
Für ein großes Eheabenteuer wie jenes von Libor und Malkie waren sie nicht lange genug zusammen gewesen, doch hatte sich ihr gemeinsamer Weg erfreulich angelassen. Und sie hatten drei kluge Kinder aufgezogen, auch wenn einige klüger als andere waren.
Er saß da und weinte ein wenig. Tränen waren gut, weil sie keinen Unterschied machten. Er brauchte nicht zu wissen, für wen oder was er weinte. Er weinte für alles.
Ihm gefiel Tylers Behauptung, dass er ein Patriot sei, der verbrannte, was er zu verlieren fürchtete. Ob es stimmte, wusste er nicht, aber der Gedanke gefiel ihm. Galt das auch für Tamara? Töteten alle ASCHandjiddn, was sie liebten, da sie fürchteten, es sonst an den Feind zu verlieren?
Tylers Vermutung war auch nicht besser oder schlechter als andere. Irgendwas musste schließlich den seltsamen, leidenschaftlichen Hass dieser Leute erklären. Selbsthass kam dafür nicht infrage. Selbsthasser würden sich eher in Isolation begeben, ASCHandjiddn aber suchten einander, feuerten sich gegenseitig an und ließen ihren Gefühlen in der Gruppe freien Lauf so wie Soldaten am Vorabend einer Schlacht. In diesem Fall konnte es sich durchaus, genau wie die arme Tyler es beschrieben hatte, um eine neue Version des alten, arg strapazierten jüdischen Stammestums handeln. Feind blieb, wer immer schon Feind gewesen war, die anderen. Und dies war nur die neueste Taktik im uralten Krieg: die Eigenen zu töten, ehe die anderen es taten.
Wenn Finkler von ihren Versammlungen nach Hause kam, fühlte er sich jedenfalls stets wie damals, als er seinen Vater in die Synagoge begleitet hatte – die Welt war ihm zu jüdisch, zu alt, zu gemeinschaftlich in einem anthropologischen, fast urzeitlichen Sinne, zu weit fort, zu tief unten, zu lang vergangen.
Er war ein Denker, der nicht wusste, was er dachte, nur dass er geliebt hatte, gescheitert war und jetzt seine Frau vermisste
und dass er dem nicht entkam, was er am Judentum so erdrückend fand, wenn er sich einer jüdischen Gruppe anschloss, die sich traf, um fieberhaft über das Erdrückende am Judentum zu debattieren. Fieberhaft über das Judentum zu reden, das gerade war ja so jüdisch.
Er blieb lang auf, sah TV und hielt sich vom Computer fern. Schluss mit Poker.
Doch Poker diente einem Zweck. T. S. Eliot hatte Auden erklärt, dass er Abend für Abend Patiencen lege, weil nichts dem Todsein näherkomme.
Patiencen, Poker … Gab es da einen Unterschied?
ZWÖLF
1
Man nahm an, dass Meyer Abramsky unter schweren Depressionen litt. Er war Vater von sieben Kindern, und seine Frau ging mit dem achten hochschwanger. Die israelische Armee hatte ihm gesagt, er solle sich darauf einstellen, mit seiner Familie aus der Siedlung fortziehen zu müssen, die er, im Einklang mit Gottes Verheißung, vor sechzehn Jahren gründen half. Er war mit seiner jungen Frau aus Brook lyn hergekommen, um seinen Handel mit Gott einzuhalten. Und nun das! Man stellte ihm Hilfe beim Umzug in Aussicht und versprach, auf den Zustand seiner Frau Rücksicht zu nehmen, die Siedlung aber habe zu verschwinden. So sprach Obama.
Man war sich einig, dass sie nicht sang- und k langlos fortziehen würde, keiner von ihnen. Einfach fortzuziehen hieße, in die Blasphemie einzuwilligen. Dies hier war ihr Land. Sie brauchten es nicht mit irgendwem zu teilen, brauchten keine Verträge, um es sich anzueignen, es gehörte ihnen. Er konnte in der Thora auf den Vers zeigen, wo es geschrieben stand. Hier die Verheißung, hier der Ort. Ja, sah man genau hin und las so genau, wie man lesen sollte, wurde sogar Meyer Abramskys Haus erwähnt. Da! Genau da, wo die Seite vom vielen Drauf-Zeigen schon ganz dünn geworden war.
Nachdem er gedroht hatte, sich mit seiner Familie im Haus zu verbarrikadieren und jeden zu erschießen, der sie umsiedeln wollte – selbst wenn es Mitjuden waren, Mitjuden vertrieben
schließlich nicht das eigene Volk vom Gelobten Land –, las Meyer Abramsky seinen Namen in der Zeitung. Es hieß, er sei einer Belagerungsmentalität verfallen. Belagerungsmentalität! Was hatten sie denn erwartet? Schließlich wurde nicht allein Meyer Abramsky, sondern das gesamte jüdische Volk belagert.
Er hat seine Drohung nie wahr gemacht, jene israelischen Soldaten zu erschießen, die ihn umsiedelten.
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