Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Stattdessen bestieg er einen Bus und erschoss eine arabische Familie, eine Mutter, einen Vater, ein Baby. Eine, zwei, drei Kugeln. Ein, zwei, drei Opfer. So sprach der Herr.
2
Es war nicht bekannt, ob Libor über diesen Vorfall Bescheid wusste und ob er davon beeinflusst worden war. Es schien eher unwahrscheinlich. Libor hatte seit Wochen keine Zeitung mehr gelesen.
Ebenso wenig war bekannt, ob er sich eine Zeitung gekauft hatte, um sie auf der Fahrt nach Eastbourne zu lesen. Sollte dies der Fall gewesen sein, dürfte er auf der Titelseite Fotos von Meyer Abramsky gesehen haben. Doch war Libors Entscheidung zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen. Warum hätte er sonst den Zug nach Eastbourne genommen?
Im Zug saß ihm Tresloves Sohn Alfredo gegenüber, doch die beiden kannten sich nicht. Man fand dies erst später heraus, was Treslove veranlasste, eine höchst unwahrscheinliche Verkettung von Ursachen zu konstruieren, die letztlich seine Schuld bewies. Wäre Treslove ein besserer Vater gewesen, der sich mit Alfredo nicht auseinandergelebt hätte, dann hätte er Alfredo vielleicht zum Essen zu Hephzibah eingeladen, wo er Libor kennengelernt hätte, und wenn er Libor kennengelernt hätte, hätte er ihn im Zug wiedererkannt und dann …
Also war Treslove schuld.
Für die Fahrt nach Eastbourne hatte sich Alfredo sein Dinnerjackett eingepackt. Er würde an diesem Abend in Eastbournes bestem Hotel Happy Birthday spielen und ähnliche Musikwünsche erfüllen.
Alfredo fand, der alte Mann ihm gegenüber sah irgendwie fahl aus. Er musste an die hundert gewesen sein, sagte er. Alfredo mochte alte Männer nicht besonders. So etwas beginnt bestimmt mit den Vätern, und Alfredo hatte für seinen Vater nicht viel übrig. Auf die Frage, ob der alte Mann ihm gegenüber besorgt oder deprimiert gewirkt hätte, gab er erneut zur Antwort, er hätte wie hundert ausgesehen – und wie sollte man in dem Alter anders als besorgt und deprimiert aussehen? Er hatte mit dem alten Herrn nicht weiter geredet, ihm nur ein Pfefferminz angeboten, das abgelehnt wurde, und dann gefragt, wohin er wolle.
»Eastbourne«, hatte der alte Mann gesagt.
Ja, natürlich nach Eastbourne, aber wohin genau? Zu Verwandten? In ein Hotel? (Hoffentlich nicht in das Hotel, in dem er auftrat, dachte Alfredo, in dem gab es schon genug alte Leute.)
»Nirgendwohin«, erwiderte der alte Mann.
Nach seiner Ankunft in Eastbourne gab Libor dem Taxifahrer präzisere Anweisungen. »Bitchy ’Ead«, sagte er.
»Sie meinen Beachy Head?«, vergewisserte sich der Fahrer.
»Hab ich doch gesagt«, gab Libor zurück. »Bitchy ’Ead!«
Ob er an einer bestimmten Stelle abgesetzt werden wolle? Dem Pub, dem Aussichtsplatz …?
»Bitchy ’Ead.«
Der Fahrer, dessen Vater auch nicht mehr der Jüngste war, wusste, wie reizbar das Alter machen kann, weshalb er erklärte, dass er, sofern gewünscht, gern warten würde. Falls nicht, könne man ihn auch anrufen, er hole dann wieder ab. »Außerdem gibt es noch einen Bus«, sagte er. »Den 12a.«
»Nicht nötig«, erwiderte Libor.
»Tja, sollten Sie mich dennoch brauchen«, meinte der Fahrer und gab ihm seine Karte.
Ohne einen Blick darauf zu werfen, steckte Libor sie sich in die Tasche.
3
Er trank einen Whisky in dem mit Schieferplatten ausgelegten Pub, setzte sich, mit Blick aufs Meer, an einen kleinen, runden Tisch. Er meinte, es sei derselbe Tisch, an dem er mit Malkie gesessen hatte, damals, an jenem lang vergangenen Tag, an dem sie hergefahren waren, um sich ihren Mut zu beweisen, doch konnte er sich auch irren. Es war nicht wichtig. Der Blick war derselbe, die Küste wogte gen Westen, steinern und alt, das Meer farblos bis auf einen dünnen Silberstreif am Horizont.
Er trank noch einen Whisky, verließ dann den Pub und stieg langsam zu den Kreidefelsen hinauf, gebeugt wie die Büsche und Bäume. Wenn keine Sonne schien, sahen die Klippen schmutzig aus, ein dreckiges Kreidemassiv, das langsam ins Meer abbröckelte.
Er wusste noch, wie er Malkie gesagt hatte: »Dazu gehört Mut.«
Malkie war nachdenklich verstummt. »Im Dunkeln wäre es am besten«, hatte sie schließlich geantwortet, als sie Arm in Arm zurückschlenderten. »Ich würde warten, bis es dunkel ist, und einfach weitergehen.«
Er kam an jenem kleinen, wie von Jakob oder Isaak aufgeschichteten Steinhaufen vorbei, an dem die Plakette mit einem Zitat aus dem 93. Psalm angebracht worden war. »Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig; der HERR
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