Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
unseren Horizont erweitert.«
»Das nennst du erweitern? Eng ist das Nadelöhr, schon vergessen? «
»Das hat Jesus gesagt, nicht Paulus.«
»Das hat Jesus laut jener Juden gesagt, die systematisch paulisiert worden waren. Er konnte mit uns in Fleisch und Blut nicht fertig werden, also rühmte er den Geist. Auf deine Weise machst du es ähnlich. Du schämst dich deiner jüdischen Haut. Hab rachmones mit dir selbst. Schließlich bist du kein Ungeheuer, nur weil du Jude bist.«
»Ich halte mich auch gar nicht für ein Ungeheuer. Ich halte nicht mal dich für ein Ungeheuer. Ich schäme mich bloß für jüdische, nein, israjelische Taten …«
»Ganz genau.«
»Es ist nichts spezifisch Jüdisches, die Taten mancher Juden nicht zu mögen.«
»Nein, aber es ist etwas spezifisch Jüdisches, sich dafür zu schämen. Das ist unser schtik; niemand kann das besser. Wir kennen die Schwachstellen. Wir machen es schon so lang, dass wir genau wissen, wohin wir unseren Dolch stecken müssen.«
»Du gibst also zu, dass wir Schwachstellen haben?«
Und so ging es immer weiter.
Nachdem Libor sich verabschiedet hatte, ging Finkler ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank seiner Frau. Er hatte ihre Kleider nicht ausgeräumt. Da hingen sie, Bügel an Bügel, die Erzählung ihres gemeinsamen Lebens, Tylers schlanke, hungrige Intensität in der Öffentlichkeit, sein Stolz auf ihr Aussehen,
die Köpfe, die sich nach ihnen umdrehten, wenn sie einen Raum betraten, Tyler wie eine Waffe an seiner Seite.
Er versuchte es mit Trauer. Gab es etwas, das sie nicht getragen hatte, das ihm sein Herz mit nicht gelebtem Leben brechen konnte? Er fand nichts. Wenn Tyler ein Kleid gekauft hatte, dann hatte sie es getragen. Alles war fürs Hier und Jetzt gewesen. Hatte sie sich drei Kleider an einem Tag gekauft, brachte sie es fertig, drei Kleider an einem Tag zu tragen. Notfalls zum Gärtnern. Worauf sollte sie auch warten?
Er atmete ihren Duft ein, schloss dann den Kleiderschrank, legte sich auf ihre Betthälfte und weinte.
Doch die Tränen waren nicht, wie er sie sich gewünscht hatte. Sie waren nicht wie Libors Tränen. Er konnte sich im Weinen nicht vergessen.
Nach zehn Minuten stand er auf, ging zum Computer und loggte sich in ein Online-Pokerspiel ein. Beim Pokern gelang ihm, was ihm im Kummer misslang – er konnte sich vergessen.
Gewann er, konnte er sich sogar noch besser vergessen.
4
In Tresloves Traum rennt ein junges Mädchen auf ihn zu. Es bückt sich im Laufen, wird dabei kaum langsamer und zieht sich die Schuhe aus. Es ist ein Schulmädchen in Uniform, Faltenrock, weiße Bluse, blauer Pullover und locker gebundener Schlips. Die Schuhe stören. Das Mädchen bückt sich im Laufen und zieht sie aus, weil es in den grauen Schulsocken schneller laufen kann, ungehinderter.
Es ist ein analytischer Traum. Treslove hinterfragt dessen Bedeutung. Die Bedeutung des Traums und den Grund, warum er ihn träumt, aber auch die Bedeutung der Szene selbst. Warum berührt ihn das Mädchen so sehr? Ist es die Verletzlichkeit der
Kleinen oder gerade das Gegenteil, ihre Stärke und Entschlossenheit? Fürchtet er um ihre Füße, schuhlos auf hartem Pflaster? Will er neugierig den Grund für ihre Eile wissen? Ist er eifersüchtig, weil sie ihn nicht beachtet und zu jemand anderem rennt? Möchte er das Ziel ihrer Eile sein?
Er träumt diesen Traum schon sein Leben lang und weiß nicht mehr, ob ihm etwas zugrunde liegt, das er einmal gesehen hat. Doch für ihn ist er real wie die Realität, und es freut ihn, wenn er wiederkehrt, selbst wenn er ihn sich vor dem Schlafengehen nicht herbeiwünscht und sich beim Aufwachen nicht deutlich an ihn erinnert. Manchmal allerdings, wenn er ein Schulmädchen sieht, wie es rennt oder sich die Schnürsenkel bindet, meint er vage, es von irgendwoher zu kennen.
Gut möglich, dass er diesen Traum in der Nacht träumte, in der er überfallen wurde. Er schlief so tief, er hätte ihn zweimal träumen können.
Er war jemand, der meist mit einem Gefühl von Verlust aufwachte. Jedenfalls konnte er sich an keinen einzigen Morgen seines Lebens erinnern, an dem er mit dem Gefühl wach geworden wäre, etwas zu haben, zu besitzen. Gab es nichts Handfestes, dessen Verlust er sich anlasten konnte, fand er die notwendige Vergeblichkeit im Welt- oder Sportgeschehen: Ein Flugzeug war abgestürzt – egal wo; eine eminente Respektsperson in Ungnade gefallen – egal wie; die englische Cricketmannschaft vernichtend
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