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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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jedem Fenster. Er – Finkler – hatte nicht das Mindeste für Heide übrig, und nur weil er konnte, hatte er sich ein Haus mit Blick auf eine Heide aus jedem Fenster gekauft. Treslove bremste seinen Beinahe-Absturz ins Verlustgefühl. Der Ausblick auf Heide war nicht so wichtig. Tyler Finkler hatte aus jedem Fenster einen anderen Blick auf die Heide genossen, und was hatte es ihr genützt?
    Beim Frühstück blutete er leicht aus der Nase. An sich unternahm er gerne einen frühen Spaziergang zu den Geschäften, doch konnte er heute nicht riskieren, von einem Bekannten gesehen zu werden. Nasenbluten ist etwas – wie Trauer, hatte Libor einmal gesagt –, das besser in den eigenen vier Wänden stattfand.
    Ihm fiel ein, was er, beschämt und erschöpft, wie er gewesen war, am Abend zuvor vergessen hatte: die Kreditkarten sperren zu lassen und den Handydiebstahl anzuzeigen. Falls die Frau, von der er ausgeraubt worden war, die ganze Nacht lang nach Buenos Aires telefoniert hatte oder mittels einer seiner Kreditkarten nach Buenos Aires geflogen war, um dann den ganzen Vormittag lang zurück nach London zu telefonieren, war er jetzt pleite. Eigenartigerweise aber fehlte noch kein Geld. Vielleicht überlegte sie noch, wohin sie fliegen sollte. Oder war es ihr gar nicht um den Diebstahl gegangen?
    Falls sie nur vorgehabt hatte, sein Leben zu verkomplizieren, hätte sie sich keine effizientere Methode ausdenken können. Den Rest des Vormittags hing er am Telefon und wartete darauf, dass echte Menschen in einer Sprache mit ihm redeten, die er verstehen konnte, um ihnen dann zu beweisen, dass er der war, der er zu sein behauptete, obwohl er nicht begriff, warum er sich über den Verlust seiner Karten Sorgen machen sollte, wenn er nicht der war, der er zu sein vorgab. Schwerer allerdings wog der Verlust des Handys, da man ihm offenbar eine neue Nummer geben wollte, obwohl er die alte gerade erst auswendig gelernt
hatte. Vielleicht aber auch nicht. Das hing von seinem Vertrag ab. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er einen Vertrag besaß.
    Kein einziges Mal aber reagierte er gereizt oder forderte, man möge den Vorgesetzten an den Apparat holen. Falls ein weiterer Beleg dafür vonnöten gewesen wäre, dass ein tatsächlicher Verlust im Gegensatz zu bloß imaginiertem Verlust seine Laune wundersam gebessert hatte, dann hätte er ihn vorgelegt. Nicht ein einziges Mal verlangte er, jemandes Namen wissen zu wollen, oder drohte, für die Entlassung seines Gesprächspartners zu sorgen. Nicht ein einziges Mal erwähnte er die Beschwerdestelle.
    Er hatte keine Post. Obwohl er sich emotional stark genug fühlte, Briefe zu öffnen, was durchaus nicht jeden Morgen der Fall war, erleichterte es ihn, dass es heute nichts zu öffnen gab. Keine Post bedeutete keine Aufträge, denn Aufträge nahm er einzig auf diesem Weg an, selbst wenn sie direkt von seinem Agenten kamen. Verpflichte dich per Telefon, in weiß Gott was für einem Outfit weiß Gott wo aufzukreuzen, und die Chance ist groß, dass das Ganze für die Katz ist. Nur ein echter Brief bedeutete echte Arbeit. Und was echte Arbeit anbelangte, war er gewissenhaft, ein Profi, der keinen Auftritt ablehnte, da er abergläubisch meinte, der erste abgelehnte Auftritt sei sicher auch sein letzter. Da draußen gab es genügend Doppelgänger, die Arbeit brauchten. In London wimmelte es von Leuten, die irgendwem ähnlich sahen. Jeder glich jemand anderem. Doch verschwand man aus den Augen, verschwand man bald auch aus dem Sinn. Wie bei der BBC. Bei dem Anblick, den er heute bot, hätte er allerdings jeden Auftrag ablehnen müssen. Es sei denn, jemand wollte, dass er als Doppelgänger von Robert De Niro in Wie ein wilder Stier auftrat.
    Außerdem brauchte er geistigen Freiraum zum Nachdenken. Etwa darüber, warum er angegriffen worden war. Nicht nur warum, wenn doch weder seine Kreditkarten noch sein Handy benutzt worden waren, sondern warum er. Die Frage ließ sich
existenziell formulieren: Warum ich, o Herr? Oder auch ganz praktisch: Warum gerade ich und nicht jemand anderes?
    Lag es daran, dass er den Eindruck leichter Beute machte? Ein unzulänglich zusammengesetzter Mann mit modularem Studienabschluss, von dem man gewiss keinen Widerstand zu erwarten brauchte? Ein unscheinbarer Niemand, der ganz zufällig vor dem Schaufenster von J.P. Guivier stand, als die – gestörte, betrunkene, unter Drogen stehende – Frau ganz zufällig vorbeigekommen war? Der Doppelgänger eines Mannes, mit dem

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