Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
sie, wer immer sie auch war, noch ein Hühnchen zu rupfen hatte?
Oder kannte sie ihn persönlich und befand sich auf einem lang geplanten Rachefeldzug? Gab es da draußen eine Frau, die ihn dermaßen hasste?
Im Geiste ging er die Liste durch. Die Enttäuschten, die Geschädigten (er wusste nicht, wie er sie geschädigt hatte, nur dass sie aussahen, sich anfühlten und anhörten, als wäre ihnen Schaden zugefügt worden), die Aufgebrachten, die Beleidigten, die Misshandelten (er wusste nicht, wie er sie misshandelt hatte etc.), die Unzufriedenen, die nie Zufriedenen, die niemals Zufriedengestellten, die Unglücklichen. Unglücklich waren sie jedoch alle gewesen. Unglücklich, als er sie traf, noch unglücklicher, als sie ihn verließen. So viele unglückliche Frauen dort draußen. Ein Meer weiblichen Elends.
Aber das war nicht seine Schuld, verdammt noch mal.
Hatte er je die Hand gegen eine Frau erhoben, was erklären könnte, warum eine Frau ihre Hand gegen ihn erheben sollte? Nein, niemals.
Na ja, bis auf einmal … fast.
Die Sache mit den Fliegen.
Sie waren zu einem langen, romantischen Wochenende verreist, er und Joia – Joia, mit einer Stimme wie zerreißende Organzaseide und Nervenbahnen, die unter ihrer Haut sichtbar
waren, ein Geflecht feiner blauer Linien wie ein Flussdelta im Atlas –, er und Joia hatten drei stressige Tage in Paris verbracht, in denen es ihnen nicht gelang, auch nur ein einziges Lokal zu finden. In Paris! Natürlich waren sie an Restaurants vorbeigegangen, hatten manchmal sogar Platz genommen, doch was ihm gefiel, gefiel ihr nicht – aus ernährungsbedingten, diätetischen und humanitären Gründen oder schlicht, weil es sich irgendwie nicht richtig anfühlte –, und was ihr gefiel, gefiel ihm nicht, weil er es sich nicht leisten konnte, der Kellner ihn beleidigt hatte oder die Speisekarte ihn gezwungen hätte, einen größeren Mangel an Französischkenntnissen bloßzulegen, als er vor Joia – Hoia – zugeben wollte. Drei Tage lang spazierten sie kreuz und quer durch die Stadt mit den besten Restaurants der Welt, zankten sich, schämten sich und waren hungrig, um dann, als sie in mürrischem Schweigen zu Tresloves Wohnung zurückkehrten, mehr als zehntausend Fliegen im Todeskampf vorzufinden – mouchoirs , nein, mouches : Merkwürdig, dass er von all den französischen Vokabeln nur dieses eine Wort erinnerte. Und wie schade, dass mouches auf keiner einzigen Speisekarte aufgetaucht waren – ein Massenselbstmord, Fliegen in den letzten Zuckungen, sterbende Fliegen auf dem Bett, an den Fensterscheiben, auf den Fensterbänken, in den Nachttischschubladen, sogar in Joias Schuhen. Sie hatte vor Entsetzen geschrien. Gut möglich, dass er selbst auch geschrien hatte. Sollte dies der Fall gewesen sein, hatte er jedenfalls wieder damit aufgehört, Joia aber, bei deren Organzaschreien die Hölle selbst zu gefrieren drohte, hörte nicht mehr auf. Treslove hatte genügend Filme gesehen, in denen ein Mann eine hysterische Frau schlug, damit sie wieder zu Verstand kam, weshalb er wusste, dass man eine hysterische Frau eben so wieder zu Verstand brachte – doch hatte er den Schlag nur angedeutet.
Allein die Andeutung – seine erstarrte Schlaghaltung – war jedoch so schlimm, als hätte er Joia tatsächlich geschlagen,
womöglich noch schlimmer, da sie absichtsvolles Handeln und nicht bloß einen zeitweiligen Verlust von Zurechnungsfähigkeit verriet, zu dem der Hunger beigetragen hatte.
Er bestritt nicht, zumindest nicht vor sich selbst, dass der Anblick der vielen Fliegen, die, nun ja, wie die Fliegen starben – tombant commes des mouches –, auf ihn eine ebenso verstörende Wirkung gehabt hatte wie auf Joia und dass der bloß angedeutete Schlag ebenso seine wie ihre Nerven beruhigen sollte, doch wird von einem Mann nun einmal erwartet, dass er weiß, was zu tun ist, wenn das Unvorhergesehene geschieht. Dass er es nicht wusste, sprach so sehr gegen ihn wie der Beinahe-Schlag.
»Schlag die Fliegen tot, wenn du schon zuhauen musst«, ihre Stimme bebte, als balancierte sie auf seidenem Faden, »aber wag es ja nie, nie, nie, nie wieder, mich zu schlagen.«
Einen Moment lang glaubte Treslove, die »nie« vermehrten sich in seinem Schlafzimmer schneller, als die Fliegen starben.
Der Schmerz ließ ihn die Augen schließen, und als er sie wieder öffnete, war Joia verschwunden. Also zog er die Schlafzimmertür zu und legte sich auf dem Sofa schlafen. Am nächsten Tag waren die Fliegen
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