Die Flamme von Pharos
er erbärmlich zu frieren. Du Gard nahm seine Jacke ab und legte sie ihm um die Schultern.
»Armer Teufel«, sagte er dazu. »Er hat den Verstand verloren.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Sarah beklommen und blickte in die Richtung, in die der Junge gezeigt hatte. »Ich glaube, ich weiß, wovon er spricht …«
»Quoi?«, fragte du Gard, aber er bekam keine Antwort. Entschlossen erhob sich Sarah und entzündete eine weitere Fackel, mit der sie den Stollen betrat. Da der Gang eine enge Biegung zu beschreiben schien, war der gelbe Feuerschein schon im nächsten Moment kaum noch zu sehen.
»Merde!«, zischte du Gard. Da der Gefangene in seinem geschundenen Zustand nicht würde gehen können, lud er ihn sich kurzerhand auf die Arme und trug ihn, um weder Sarah noch ihn allein zu lassen. Zusätzlich mit dem Beil und der Fackel beladen, kam du Gard sich wie ein Lasttier vor, entsprechend grob waren die Verwünschungen, die er ausstieß. Er verstummte jedoch, als der Stollen plötzlich endete und in ein oval geformtes Gewölbe führte, das in alter Zeit eine Art Ratskammer gewesen sein mochte.
Die glatt behauenen Wände wurden von steinernen Sitzen gesäumt, während sich im Zentrum eine zylindrische Stele erhob. Darin eingemeißelt fand du Gard jenes rätselhafte Zeichen, das sich auch auf dem Codicubus befunden hatte.
»Das Auge«, stieß der Gefangene hervor, als er das Symbol ebenfalls erblickte. »Auge sieht alles! Fort, rasch fort …«
Mit der letzten Kraft, die ihm verblieben war, wehrte sich der Junge gegen du Gards Griff, worauf dieser ihn absetzte und auf einen der Steinsitze bettete. Dann wandte er sich Sarah zu, die in der Mitte der Kammer stand und betroffen auf die Stele starrte. Erst jetzt bemerkte du Gard, dass sich in der Oberseite eine Vertiefung befand, die zur Hälfte mit Asche gefüllt war.
»Hier ist es gewesen«, flüsterte Sarah erschüttert, in deren Augen du Gard es feucht blitzen sah – oder lag es am Rauch, den die Fackeln verbreiteten? »Hier bin ich erwacht. Hier enthüllte mir der Vermummte das Geheimnis des Codicubus, und hier begriff ich, wonach mein Vater tatsächlich sucht.«
»Was ist das?«, fragte du Gard, auf die Asche in der Kuhle deutend.
»Die Überreste der pinakes, der Kataloge der Bibliothek von Alexandrien«, erwiderte Sarah leise. »Das Werk der Zerstörung hat bereits begonnen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es sich fortsetzt.«
»Aber Sarah«, wandte du Gard ein. »Was willst du tun? Diese Leute, wer immer sie auch sein mögen, schrecken vor keiner Untat zurück.«
»Offensichtlich«, bestätigte Sarah mit bebender Stimme und ließ offen, ob sie damit den Mord an Pierre Recassin, den halbtoten Gefangenen oder das Verbrennen der pinakes meinte. »Womit wir es hier zu tun haben, ist pure Aggression, barbarischer Zerstörungswille. Du hattest recht, als du sagtest, dass es hierbei um mehr ginge, als wir ahnten, Maurice. Nicht nur das Leben meines Vaters steht auf dem Spiel, sondern alles, wofür Archäologen jemals gearbeitet haben.«
»Oui«, räumte du Gard ein, der in der Asche herumgestochert hatte, »vielleicht hast du re …«
Er verstummte jäh, und seine Züge nahmen einen seltsam starren Ausdruck an, den Sarah noch nie bei ihm gesehen hatte. Gleichzeitig schienen seine Blicke in weite Ferne zu schweifen, als gäbe es ringsum keine undurchdringlichen Felswände.
»Maurice, was hast du?«, fragte Sarah erschrocken. »Was ist los?«
Eine Antwort bekam sie nicht, aber sie sah, wie du Gards Pupillen hin und her zuckten, als beobachteten sie etwas, das sehr schnell vor seinen Augen ablief.
»Non«, murmelte er dabei mehrmals, »ce n’est pas possible«, aber er schien weder zu Sarah zu sprechen noch seine Umgebung überhaupt bewusst wahrzunehmen.
Dann, so plötzlich, wie der Zustand eingesetzt hatte, fiel die eigenartige Trance wieder von du Gard ab. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich abermals, der Blick seiner Augen fokussierte sich wieder auf das Hier und Jetzt.
»Maurice, ist alles in Ordnung?« Aus Sarahs Zügen sprach ehrliche Besorgnis.
»Qu’est-ce qui s’est passé«, fragte du Gard und blickte sich staunend um. Erst ganz allmählich schien ihm wieder bewusst zu werden, wo er sich befand.
»Sag du es mir«, verlangte Sarah. »Du warst plötzlich so anders …«
»Es ist wieder geschehen, Sarah«, entgegnete du Gard geheimnisvoll.
»Was meinst du?«
»Ich hatte eine Vision. Genau wie an jenem Abend im Theater …«
»Und?« Sarah
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