Die Flammen der Dunkelheit
Sees angekommen war, stieß er auf jemanden, mit dem er nie gerechnet hätte. Vor ihm auf dem Pfad befand sich eine Frau, die er schon von Weitem als Dídean erkannte. Zuerst weigerte sich sein Verstand, dies zu glauben, doch als sie sich auf ihn zubewegte, konnte er es nicht mehr leugnen. Augenblicklich spürte er Hass in sich aufsteigen, aber auch Neugier, die ihn schließlich dazu brachte, stehen zu bleiben und auf sie zu warten.
Zuerst musterten sie sich gegenseitig. Dídean schien zurückhaltend wie immer, und Dorc kämpfte gegen Gefühle an, die ihn zu überwältigen drohten. Dutzende von Erinnerungen tauchten in ihm auf, in denen er aufgewühlt und Trost suchend nur ihrer unbewegten Miene ausgeliefert war, während sie ihn nüchtern zur Ordnung rief. Ihr Name bedeutete ›Schutz‹ und ›Zuflucht‹, aber das war sie nie für ihn gewesen.
»Ich hätte es wissen müssen!«, brach es aus ihm heraus. »Jemand, der so kalt zu einem Kind ist, kann kein Mensch sein!«
Dídean war verblüfft über diese Begrüßung, doch sie fasste sich schnell. »Du wirfst mir Kaltherzigkeit vor? Du, der du keine Ahnung hast, wie es ist, mitten unter Feinden zu leben, immer damit rechnen zu müssen, entdeckt zu werden und auf schreckliche Art zu sterben.«
Dorc entfuhr ein kurzes trockenes Lachen. Angesichts der letzten Jahre erschien ihm dieser Vorwurf bizarr.
Dídean war zuerst verwirrt von seiner Reaktion, aber dann fuhr sie fort sich zu verteidigen: »Was du Kälte nennst, war in Wirklichkeit äußerste Beherrschung, notwendig fürs Überleben. Ein falsches Wort, eine unbedachte Geste wäre der Untergang gewesen, und nicht nur meiner, sondern der aller Lebewesen auf dieser Insel! Ein winziger Fehler hätte sich als tödlich erweisen können, aber du hast nie Gewissheit, ihn als solchen im Voraus zu erkennen. Deshalb unterlässt du vieles aus reiner Vorsicht. Oder nenne es meinetwegen Angst.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte sie diese Angst sogleich beiseitefegen.
Dorc ging nicht auf ihre Rechtfertigung ein, er meinte Selbstmitleid hinter ihren Worten zu spüren und dies widerte ihn an. Er wollte auch keine weiteren Erklärungen, ihm war ohnehin klar geworden, dass Aithreo sie zu seinem Schutz an den Hof befohlen haben musste. Dass sie ausgerechnet im entscheidenden Moment versagt hatte, sprach nicht für dessen Weitsicht. Wäre alles anders gekommen, hätte sie sich wie Lasair wirklich um ihn gesorgt? Obwohl diese ihn und Glic getäuscht hatte, wusste er, dass sie ihr Leben geben würde, um sie beide zu beschützen, und zwar aus Zuneigung und nicht ihrem Volk zuliebe. Auch wenn ihm die Erkenntnis erst jetzt angesichts von Dídean richtig bewusst geworden war. Wie unterschiedlich waren doch diese beiden Frauen!
»Du hast nie etwas für mich empfunden, ich war nur eine Pflicht, nichts weiter«, sagte er und seine Stimme klang müde. Er wollte plötzlich weg, aber als er sich zum Gehen wandte, hielt Dídean ihn am Ärmel fest.
»Woher willst du meine Gefühle kennen? Ich habe dich aufgezogen wie eine Mutter!«, rief sie.
Eine Woge von Hass überrollte ihn bei diesen Worten. Dorc holte tief Luft. »Eine richtige Mutter würde ihr Kind bei Gefahr niemals im Stich lassen, selbst wenn es ihr Tod wäre! Und ich war noch ein Kind, als du geflohen bist. Du hast nicht einmal einen Versuch gemacht, mir zu helfen!«, schrie er aufgebracht und riss sich los.
Der Vorwurf traf. Dídean spürte Zorn in sich aufsteigen. Aber sie verkannte, dass sie auf sich selbst wütend war. Lieber schlug sie zurück, als sich das einzugestehen. »Woher willst du wissen, wie eine Mutter ist? Deine eigene wollte nie etwas von dir wissen!« An Dorcs Gesichtsausdruck sah sie, dass sie in ihrer Wut zu weit gegangen war. Es gab keine Möglichkeit, diese Sätze ungeschehen zu machen, und sie war ratlos, was sie nun tun sollte. Also schwieg sie.
Auch Dorc blieb lange stumm. Seine Miene verschloss sich, und sie vermochte nicht mehr daran abzulesen, was in ihm vorging. »All die Jahre unter Menschen, und du kennst sie immer noch nicht!«, sagte er schließlich ruhig, und in seinen Worten schwang eine Verachtung mit, die Dídean mehr traf als alles andere. Er drehte sich um und ließ sie stehen. Das Band zwischen ihnen war endgültig zerschnitten – wenn es je ein solches gegeben hatte. Gelähmt von widerstreitenden Gedanken verharrte sie reglos.
»Hast du auch nur einmal darüber nachgedacht, warum diese Frau ihren Sohn vielleicht gar
Weitere Kostenlose Bücher