Die Flammen der Dunkelheit
verächtlichen Einwurf am See. Wie konnte man die Ablehnung eines unschuldigen Kindes von Geburt an mit einer einzigen Fehleinschätzung vergleichen! Und wer hatte mit seinem Geschrei das Geheimnis des Jungen an die Priester verraten? Doch nicht sie! Ausgerechnet Lasair schwang sich zur Richterin auf, die es mit der unglaublich dummen Wahl eines Verstecks für den Ring geschafft hatte, gleich beide Hoffnungsträger auf einmal zu gefährden. Doch sie wurde nicht verurteilt!
Die Ungerechtigkeit war wie ein Stachel in Dídeans Herzen. Sie war unentschieden, wen sie mehr hasste, Lasair oder die Königin. Dass ausgerechnet Aurnia bemitleidet wurde, konnte Dídean erst recht nicht fassen. Sie wusste am besten, wie durch und durch verwerflich dieses arrogante Weib war, schließlich hatte sie über die Jahre genug Gelegenheit gehabt, die Königin zu beobachten. Der Zorn und das Gefühl der Ohnmacht in ihr wuchsen und drohten sie zu ersticken. Zunächst ließ sie ihre Wut an den Flammenkriegern und Soldaten aus. Doch das blieb unbefriedigend, denn es änderte wenig an ihrer Lage, weil es damit nicht das Geringste zu tun hatte. Endlich gestand sie sich ein, was sie schon spürte, seit sie heute Nacht aus der Ferne die Mauern von Kerlonrax gesehen hatte: Es zog sie zum Palast. Sie hatte noch eine Rechnung zu begleichen.
Langsam, damit es von ihren Kampfgefährten unbemerkt blieb, bewegte sie sich zum Rand des Geschehens, um sich dann in einem unbeobachteten Moment in ein kleines barfüßiges Mädchen zu verwandeln, das scheinbar außer sich vor Angst umherirrte. Die Aos Sí töteten nur Soldaten, Flammenkrieger und sonstige Angreifer, und sie hoffte, dass auch die Menschen ein unschuldiges Kind am Leben lassen würden. Ihr Plan ging auf und bald befand sie sich in ruhigeren Gefilden. Die Nebengassen waren gespenstisch leer, die Bewohner hatten sich in ihre Häuser verkrochen und Türen und Fenster verbarrikadiert. Hier kam sie zwar gut vorwärts, aber der Umweg führte sie zu nah am Heiligtum vorbei. Sie wusste nicht genau, auf welchem Weg Lasair mit den beiden Grünschnäbeln vordringen wollte, und war deshalb doppelt vorsichtig, denn eine Begegnung hätte alles durcheinandergebracht. Trotzdem nahm sie wieder ihre eigene Gestalt an, darin war sie wehrhafter. Einmal verlief sie sich in eine falsche Gasse, dann fand sie endlich die richtige. Schnell bog sie in den steilen Weg ein, der hoch zum Palasttor führte. Sie war noch nicht weit, da merkte sie, dass ihr jemand entgegenkam. Diese Person hatte es offenbar ebenfalls eilig, aber gleichzeitig versuchte sie möglichst unauffällig zu wirken, wie Dídean an der Art des Gehens hörte. Sie sah erleichtert, dass es sich um eine ältere Frau handelte, ein paar lange weiße Locken hingen unter der Kapuze hervor, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Wer immer es war, sie stellte keine Gefahr dar. Doch vorsichtshalber verbarg sich Dídean hinter einem an der Wand hochkant angelehnten Karren. Nur ihrem feinen Gehör verdankte sie es, nun auch die zweite Person zu bemerken, die die Gasse betreten hatte, denn diese ging so leise, dass sie einen Moment befürchtete, es könnte sich um einen der Ihren handeln. Aber dann hätte sie gar nichts gemerkt, beruhigte sie sich selbst, es musste also ein Mensch sein. Bestimmt hatte auch er etwas zu verbergen. Neugierig wagte sie einen Blick, und der genügte, um ihr zu zeigen, dass dieser Mensch, bei dem es sich den Stiefeln und dem Gang nach um einen Mann handelte, hinter der Frau her war. Was für ein merkwürdiges Spiel ging hier vor?
Wahrscheinlich nichts Wichtiges, dachte Dídean. Zur Sicherheit hielt sie sich weiterhin verborgen. Die Fremde lief vorbei und als kurz darauf der Mann auf gleicher Höhe mit ihr war, sah Dídean aus ihrem Versteck erstaunt, dass er einen Dolch in der Hand hielt. Sie schaute ihm nach und beobachtete, wie er immer mehr aufholte. Als er die Frau fast erreicht hatte, hob er den Arm, um sein ahnungsloses Opfer hinterrücks zu erstechen. Ein Pfeil, der sein Genick durchbohrte, hinderte ihn daran. Lautlos sank der Mann in die Knie und fiel dann vornüber. Ein Zucken noch und er blieb reglos liegen. Die Verfolgte hatte von alldem nichts bemerkt und bog in dem Augenblick um die Ecke, als Dídean den Toten erreichte. Mit der Fußspitze drehte sie ihn um. Das Gesicht mit dem Schnauzbart war in einer Maske äußersten Erstaunens erstarrt. Gesehen hatte sie ihn schon einmal, sie war nur unsicher wo. Könnte es einer der
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