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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyne Okonnek
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gegenüber, an dem er aufgewachsen war, und er konnte den Anblick kaum ertragen. Was hatten die Menschen nur daraus gemacht? Cathair-lonrach, die strahlende Stadt, war verschwunden. Sie hatten die filigranen Türme und Brücken aus weißem Stein zerstört und hässliche graue Klötze dicht an dicht an ihre Stelle gesetzt. Nichts war übrig geblieben von der Weite, dem Licht, bloß den Namen hatten sie beibehalten, in ihrer schwerfälligen Zunge war er zu Kerlonrax geworden. Wenn er diese schmutzig graue Masse betrachtete, die um den klobigen Palast quoll und von der Mauer mehr gebändigt als geschützt wurde, fragte er sich, wo das Strahlen geblieben war, aber vermutlich hatten sie inzwischen weder eine Ahnung, was der Name bedeutete, noch woher er ursprünglich stammte. Ob sie die heilige Quelle tief unter der Stadt gefunden hatten? Und wenn ja, hatten sie ihre Bedeutung verstanden oder nutzten sie das Wasser, um ihr Vieh zu tränken? Diese und die andere Quelle in ihrem Zufluchtsort, die den unterirdischen See speiste, gehörten zusammen. Sie waren die Augen des Universums, und die Zukunft spiegelte sich darin, obwohl nur äußerst selten jemandem die Gnade widerfuhr, dies zu erkennen. Doch die Möglichkeit bestand und gab Anlass zu Hoffnung. Was war mit der Anlage geschehen, die die Aos Sí vor der Erschaffung von Cathair-lonrach um die Quelle herum in den Bauch der Klippen gebaut hatten? Gab es sie noch oder war sie verschüttet worden? Lasair hatte behauptet, dass die Menschen ihr eigenes Heiligtum daraufgesetzt hatten, aber sie musste sich täuschen. Es war denkbar, dass sie in diesem grauen Häuserbrei die Stelle verwechselte.
    Er spürte, wie der Morgen nahte, nicht mehr lange und ihr Angriff würde – noch im Dunkeln – beginnen. Ihm graute vor dem Blutvergießen. Ach wäre es nur zu schaffen, den Hass einfach beizulegen!, dachte er. Doch das war ihm nicht einmal bei seinem eigenen Sohn gelungen. Dessen Ablehnung hatte ihn getroffen. Er hatte sich dieses Treffen anders ausgemalt, hatte mit Überraschung und vielen Fragen gerechnet, aber nicht mit dem stummen Hass, den er in Dorcs Augen entdeckt hatte. Was immer dieser denken mochte, er war und blieb sein Sohn, dessen Wohlergehen ihm am Herzen lag, auch ohne die Prophezeiung. Denn hätte er sonst Dídean zu seinem Schutz ausgewählt, die einst für ihn selbst eine besondere Stellung innehatte? Obgleich ihm die Gefühle für Dorc erst bewusst geworden waren, als er die Nachricht von seiner Gefangennahme erhielt und alle ihn verloren glaubten. Er verfluchte sich unaufhörlich dafür, bei der ersten Begegnung mit seinem Sohn unbesonnen und wie ein Tor reagiert zu haben. Er verstand nicht, was ihn getrieben hatte. Aber genauso wenig konnte er die nagende Unruhe nachvollziehen, die ihn befiel, wenn er sich ein Leben an Grians Seite vorstellte. Bis heute war er sicher, sie hatte ihn nicht aus Liebe gewählt. Die Frage, was Liebe eigentlich ist und woran man sie messen kann, beschäftigte ihn ohnehin, wenn er die Vergangenheit bis zu diesem Augenblick an sich vorbeiziehen ließ. Er war damals mindestens so entsetzt über die Entscheidung wie sein Freund – sein ehemaliger Freund – gewesen, aber er hatte es nie gewagt, die Weisheit ihres Entschlusses anzuzweifeln, auch wenn sie ihm verborgen blieb und es ihm unendlich schwergefallen war, auf die Frau zu verzichten, der insgeheim sein Herz gehörte. Von jetzt aus betrachtet, war es doch richtig, denn Dídean hatte sich sehr verändert, er konnte sie kaum wiedererkennen. Aber sollte man es ihr wirklich ankreiden? War nicht mit ihnen allen etwas geschehen? Manchmal sah er mit Grausen, was aus ihm geworden war. Gerne hätte er sich jemandem anvertraut, aber einer, der ein Volk führte, durfte keine Schwäche zeigen. Er seufzte leise. Nicht nur Néal, auch er selbst hatte einen hohen Preis bezahlt.
    Drüben auf der Stadtmauer war jetzt Bewegung zu sehen. Offensichtlich waren die Soldaten inzwischen beunruhigt über die riesigen Vogelschwärme. Es wurde Zeit, das Zeichen für den Angriff zu geben, bevor der Feind ahnte, was sie sein könnten oder vorhatten, und noch eine wirkungsvolle Abwehr aufstellte. Seine eigene Anspannung hatte in diesem Moment ihren Höhepunkt erreicht. Ab jetzt gab es kein Zurück mehr, und am Ende des Tages würde sich zeigen, ob die Aos Sí und mit ihnen die Welt eine Zukunft besäßen. Er selbst würde sich Lasair und den beiden anderen anschließen, sobald die erste Angriffswelle in vollem

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