Die Flammen der Dunkelheit
Hände zerschnitt, während er hastig die nassen Trümmer durchwühlte, bis er auf einen Klumpen stieß. An dessen Beschaffenheit und den Spuren von Farbe erkannte er, dass es sich wirklich um das Bild handelte. Fassungslos berührte er die kläglichen Überreste. Wie lange und mit welcher Leidenschaft hatte er daran gemalt! Zahlreiche Unterrichtsstunden hatte er damit verbracht, seinem Lehrer Löcher in den Bauch zu fragen, wie man dieses oder jenes darstellen könnte. Das Bild sollte der Schlüssel zum Herzen seiner Mutter sein, die die Arbeit Brones, des jungen Hofmalers aus Creig, so sehr bewunderte. Dallachar verzog den Mund. Mit einem unförmigen Papierklumpen konnte er Brone wohl kaum ausstechen, und bis zum Geburtstag seiner Mutter blieb ihm nicht genügend Zeit, ein neues Bild anzufertigen. Die einzige Gelegenheit, mehr als ein höfliches Nicken von ihr zu gewinnen, war vorüber, bevor sie noch begonnen hatte. Nun würde ganz gewiss nicht eintreffen, was er sich in vielen Tagträumen vorgestellt hatte. Kein Gespräch würde sich über das Bild ergeben, kein Gespräch, in dem sie sich endlich etwas annähern und sich vielleicht sogar dem wachsamen Blick von Jalluths Erwähltem hätten entziehen können. Dessen kalter Ausdruck ließ jegliche Wärme im Thronsaal ersterben, und selbst er, der Sohn der Königin, kam sich stets so fehl am Platz vor wie alle anderen Bittsteller, die an diesem besonderen Tag Audienz erhielten und in großer Hast sprachen, um möglichst rasch den Saal wieder verlassen zu können. Obwohl er sich sehr nach der Nähe seiner Mutter sehnte – die Anwesenheit des Erwählten trieb ihn regelmäßig in die Flucht. Wie eine Spinne überwachte das Oberhaupt der Priesterschaft jede Regung im Palast, und noch war Dallachar zu jung, waren seine Kräfte nicht groß genug, um die Mutter aus diesem Netz zu befreien. Denn trotz seiner Unerfahrenheit spürte der Prinz, dass sich die Königin nur widerwillig der Allmacht des Erwählten beugte. Schon lange war er der Überzeugung, dass sie, um ihr Kind zu schützen, Abstand zu ihm hielt, damit sie die Aufmerksamkeit des Erwählten nicht noch mehr auf ihn lenkte, als es ohnehin der Fall war. Nun würde ein weiteres Jahr verstreichen, bis Dallachar die Möglichkeit offenstand, mit seiner Mutter ein paar Worte zu wechseln und ihr vielleicht sogar anzudeuten, dass er sie eines Tages retten werde. Mit einem Mal fühlte er sich mutlos, jetzt, wo sein schöner Plan zerschlagen worden war. Und auch sein Zimmer war unbewohnbar geworden, der einzige Ort, der ihm in der kühlen Atmosphäre des Palastes ein wenig Geborgenheit geschenkt hatte. Dallachar hatte Mühe, nicht die Fassung zu verlieren und wie ein Säugling zu weinen. Er presste die Fingernägel in seine Handflächen, wie er das oft in der Gegenwart des Erwählten machte, um seine Angst zu bezwingen statt einfach davonzurennen. Als er sich wieder gefasst hatte, stand er auf und kletterte über die Trümmer zum Fenster. Von hier hatte er Aussicht über einen Großteil der Stadt und bis weit aufs Meer hinaus. Dort draußen hing die Wolkendecke sehr tief, man wusste nicht recht, wo der Himmel aufhörte und das Wasser anfing. In den Gassen unter ihm waren bereits die ersten Bewohner zögernd aus ihren Schlupflöchern gekommen, um die Schäden zu begutachten und aufzuräumen. Bei vielen der grauen Häuschen hatte der Wind Schieferplatten von den Dächern gefegt. Die Fischerboote im Hafen lagen zerschellt am Ufer oder waren gesunken. Dallachar war erleichtert, dass das kleine Boot, mit dem er Segeln lernen wollte, sich noch im Bau befand. Er freute sich so, wenigstens hin und wieder aufs Meer flüchten zu können, dass er die Fertigstellung kaum erwarten konnte. Jeden Mittag besuchte er die Bootsbauer, begutachtete den Fortschritt und schaute ihnen bei der Arbeit zu. Wissbegierig, wie er war, hatte er dabei viel gelernt. Vielleicht würde er eines Tages sein eigenes Segelboot bauen.
Plötzlich blendete ihn helles Licht. Er drehte den Kopf und sah erstaunt, dass die dunkle Wolkendecke an einer Stelle aufgebrochen war und Sonnenstrahlen sich ihren Weg bis hinunter aufs Wasser bahnten. Sie zauberten dem Meer funkelnde Wellen und ein Lächeln in Dallachars Herz. Wohl nicht nur in seines, denn in den Straßen konnte er jubelnde Rufe hören. Menschen hielten inne in ihrem Tun und zeigten nach oben, ein Staunen auf dem Gesicht. Ein kleines Kind begann zu weinen. Es war noch nicht geboren, als die Sonne das letzte Mal
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