Die Flammen der Dunkelheit
sie bekämpften.
Ardal seufzte, der Wahrheitsgehalt der Listen war sicher ungleich höher. Man konnte über die aufgezählten Nahrungsmittel sogar Rückschlüsse auf die Veränderungen der Insel ziehen. Hatte es vor dreihundert Jahren Fässer mit Wein in den Kellern und Weizensäcke in Hülle und Fülle gegeben, waren die sonnenhungrigen Reben längst in der kalten Nässe verfault und das goldene Getreide fand sich nur noch in einer Handvoll alter Lieder und Sagen. Er kannte es zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber Ardal war überzeugt davon, dass Wein und Brot eine köstliche Mahlzeit gewesen sein mussten. Heute trank man bei Festen vergorene Schafsmilch und verarbeitete die leicht bitteren Samen eines Sumpfgrases zu harten Fladen, die man geradezu trotzig weiter als Brot bezeichnete. Immerhin ernährte es die Menschen, obwohl Farbe und Geschmack wenig einladend waren. Der Gedanke an das Brot ließ seinen Magen knurren. Die letzte Mahlzeit war viel zu lange her. Aber jetzt konnte er nicht aufbrechen, um zu Hause etwas zu essen. Er beeilte sich mit den letzten Papieren, entdeckte in ihnen nicht den winzigsten Hinweis und räumte alles wieder an seinen Platz. Es war Zeit, ins Archiv zu gehen und in den daran angrenzenden Kellern nach geheimen Durchgängen und Verliesen zu suchen. In den gewöhnlichen Zellen war das Gesuchte jedenfalls nicht, das hatte er längst herausgefunden. Ihm wurde immer noch übel, wenn er an die jämmerlich zugerichteten Gefangenen dachte, die dort unten dem Tag ihres grausamen Todes entgegendämmerten. Es fiel ihm unendlich schwer, sie ihrem Schicksal zu überlassen, doch er durfte seine Aufgabe nicht gefährden. Aber die Erinnerungen würden ihn gewiss bis an sein Lebensende verfolgen! Oft genug schreckte er nachts aus unruhigem Schlaf hoch oder wurde von seinem Sohn aus Albträumen geweckt. Manchmal überlegte er, was geschehen würde, wenn die Menschen erführen, was sich im Innersten ihres Heiligtums abspielte. Wäre es in ihren Augen eine gerechte Strafe oder würden sie gegen diese Unmenschlichkeit aufbegehren? Es war schwierig einzuschätzen, die jahrhundertelang eingepflanzte Furcht vor Dämonen hatte die unberechenbarsten Folgen, und die Menschen erweckten manchmal den Eindruck, als wären sie ohne jeden Verstand. Wer ist hier der Dämon – die Frage hätte er so manches Mal gerne gestellt. Aber er hatte seine Sinne alle beisammen und würde sich hüten, diesen Fehler zu begehen. Man endete schnell in den Kerkern und auch sein Sohn wäre in Gefahr.
Der Gedanke beschleunigte seinen Puls auf der Stelle. Er hatte so viel Schuld auf sich geladen, um das Kind zu schützen, das durfte nicht umsonst gewesen sein. Entschlossen nahm er seine Öllampe, klemmte sich einen Stapel alter Bücher unter den Arm und verließ die Schreibstube. In den Gängen war niemand zu sehen, die Priester schliefen längst oder vergnügten sich in ihren Räumen. Ardal hatte auf seinen nächtlichen Rundgängen mehrmals eine von den Mägden mit aufgelöstem Haar, unordentlich zugeknöpfter Kleidung und roten Wangen im Treppenhaus gesehen. Um diese Zeit waren sie gewiss nicht zum Putzen unterwegs. Ob der Erwählte von dem munteren Treiben wusste? Die Priester sollten eigentlich allem Genuss entsagen und einzig Jalluth dienen, in Worten und Taten. Vermutlich war der Erwählte der Einzige, der sich daran hielt. Seit Ardal hier arbeitete, hatte er ihn nie etwas anderes als Algensuppe und Fladen essen oder Wasser trinken sehen. Und durch Frauen pflegte dieser hindurchzuschauen, als ob sie nicht existierten. Auch Ardal hielt Abstand zu ihnen, doch er hatte allen Grund dazu, einen zweiten Fehler konnte er sich nicht leisten. Die Menschen waren dumm, sich durch Liebe und Begehren leiten zu lassen. Vielleicht hatte sogar der Erwählte das erkannt.
Ardal betrat das Archiv im Keller des Wirtschaftsgebäudes, stellte die Lampe ab und ordnete die mitgebrachten Bücher in die Regale ein. Sobald er fertig war, ging er in den hinteren Teil des Raumes. Dort befand sich ein uralter Schrank, dessen Tür fehlte. In seinem Inneren konnte man einige Schriftrollen sehen. Ardal packte den Schrank auf einer Seite und hob ihn vorsichtig an und von der Wand weg. Das Gewicht war keine Schwierigkeit für ihn, eher die Tatsache, dass er kein Geräusch machen durfte. Endlich war der Spalt zwischen dem Möbelstück und der Wand breit genug für ihn, ohne dass einem zufälligen Besucher des Archivs schon von Weitem auffiel, dass etwas
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