Die Flammen der Dunkelheit
Dinge heute anders, mehr wie er wohl, in einem milderen Licht. Über so vieles hatten sie geredet, während sie bewegungslos dasaß, damit er das Porträt anfertigen konnte. Tatsächlich war er der erste Mensch, der sie aus freien Stücken beschenkte.
Eines aber war gleich geblieben. Aurnia schrak zusammen, als der Erwählte plötzlich vor ihr stand. Sie hatte ihn wie üblich nicht kommen hören. Seine Blicke schienen sie zu durchbohren, und sie war froh, dass er sie nicht mit dem Bild in der Hand erwischt hatte.
»Dieses Hemd ist zu groß für Euren Sohn.«
Aurnia war unsicher, wie sie diese Bemerkung verstehen sollte, aber der Erwählte ließ sie nicht lange im Unklaren darüber, worauf er hinauswollte.
»Ihr solltet Euch mehr um Dallachar kümmern. Ihr überlasst ihn zu sehr dieser Dídean.«
Immer wieder Dallachar! Aurnias Bemühungen, seine Existenz zu vergessen, wurden ständig von den Erwartungen der anderen durchkreuzt. Für sie bedeutete der Junge einzig die Erinnerung an eine Nacht der Erniedrigung, an die sie nie mehr denken wollte. Seine Augen, die sie um Liebe anbettelten wie ein kleiner Hund, lösten nur Schuldgefühle aus, weil sie nichts für ihn empfinden konnte. Das ärgerte sie, ebenso wie die Vorhaltungen des Erwählten. Sie wusste nicht, was er noch wollte, für das Kind war doch gesorgt!
»Sie erzieht ihn ganz in Eurem Sinne«, versuchte sich Aurnia zu verteidigen.
»Wie könnt Ihr das beurteilen? Ihr habt doch nur noch Augen für diesen Maler aus Creig!«
Ohne dass sie es verhindern konnte, stieg ihr das Blut in die Wangen. Sie fühlte sich ertappt und gleichzeitig machte sich jahrelang unterdrückter Zorn bemerkbar, den sie mühsam hinunterschluckte.
»Ihr solltet besser Eurem Sohn ein Hemd nähen!«, sagte der Erwählte.
Aurnia ging nicht auf diesen Vorschlag ein, der mehr eine Anweisung war. »Es war Eure Idee, ein Porträt für den Thronsaal anfertigen zu lassen. Wie sagtet Ihr noch gleich? Der König soll nicht allein dort hängen? Reichlich makabre Worte für meinen Geschmack!« War es klug, sich zu solchen Aussagen hinreißen zu lassen? Aurnia biss sich auf die Zunge, um ihre unüberlegte Rede zu unterbrechen. Niemals hatte es jemand gewagt, den Erhabenen für irgendetwas zu kritisieren. Auch sie nicht, obwohl sie oft genug Grund dazu gehabt hätte. Manchmal hatte sie das unangenehme Gefühl, er provozierte sie, einen Fehler zu begehen. In dieser Hinsicht glich er ihrem Vater. Bis zum heutigen Tag hatte sie sich beherrschen können, aber plötzlich war alle Vorsicht vergessen. Angespannt wartete sie auf eine Reaktion. Doch der Erwählte sagte nichts. Langsam schritt er zu dem großen Fenster, das auf den Vorplatz hinausging. Sie konnte nur seinen kahl rasierten Schädel über dem Flammenmantel sehen. Mit beiden Händen hielt sie sich an den Lehnen ihres Stuhls fest, um nicht unruhig hin und her zu rutschen. Regen hämmerte schmerzhaft laut an die Scheiben.
Ich bin die Königin, dachte sie wieder und wieder, ich bin die Königin. Er konnte ihr nichts tun. Aber ganz sicher war sie nie.
Ein halbes Leben schien vergangen, als er sich umdrehte und endlich zu sprechen begann. Seine Stimme war leise, doch sie schnitt wie ein scharfes Messer in ihr Inneres.
»Ich hätte ihn überprüfen sollen. In Creig gibt es noch zu viele von ihnen.«
Er brauchte nicht zu erklären, was er mit »ihnen« meinte. Aurnia wusste auch so, dass er von den Nachkommen der Dämonen sprach, und sie erstarrte zu Eis. Im Fenster neben ihm spiegelte sich ihr gespenstisch weißes Antlitz. Zielsicher hatte er die einzige Stelle gefunden, an der sie verwundbar war. Sie wagte kaum zu atmen aus Angst, in tausend Splitter zu zerspringen. Dem Ausdruck des Erwählten war nicht zu entnehmen, was er dachte. Sein Gesicht wirkte fremdartig wie immer. Der Brauch, einem Erwählten nicht nur den Namen zu nehmen, sondern auch die Haare und Augenbrauen wegzurasieren sowie die Wimpern abzuschneiden, damit nichts mehr an irgendwelche Eitelkeiten oder den Mann erinnerte, der er einmal gewesen war, entmenschlichte ihn.
Haben sie ihm auch die Seele genommen?, fragte Aurnia sich in diesem Augenblick. Sie überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte, aber sie wusste genau, alles würde falsch sein. Absolut nichts konnte sie vorbringen, um das Verhängnis abzuwenden, und so saß sie da und schwieg, einmal mehr zur Puppe gemacht.
Der Erwählte schaute sie unverwandt an. Ein Zeitalter verstrich, dann zwei, dann immer mehr, in denen
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