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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyne Okonnek
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schließen, wankte er zu dem Hocker, der zusammen mit einem Tisch in der Ecke stand, und ließ sich nieder. Ohne sie wirklich zu sehen, spielte er mit den Schmuckstücken darauf. Müde fuhr er sich über die Augen. Viel zu viel Kraft verschwendete er in den nächtlichen Stunden! Er musste sich endlich eine bessere Lösung ausdenken, um hierherzugelangen. Es dauerte immer länger, bis er sich davon erholte, und er konnte es sich keinen Augenblick leisten, Schwäche zu zeigen. Aber es war etwas anderes, was ihn wirklich beunruhigte. Seit Jahren hatte er das untrügliche Gefühl, Wichtiges übersehen zu haben. Trotz aller Grübelei wollte ihm jedoch nicht einfallen, was es gewesen sein könnte. Bis jetzt hatte er sich in seiner langen Amtszeit als Erwählter nie einen Fehler erlaubt. Doch der Eindruck einer lauernden Gefahr wollte nicht schwinden, wurde im Gegenteil immer stärker. Er schüttelte den Kopf. Hier war er sicher! Die Zweifel flüsterten ihm etwas anderes ins Ohr. Sollte seine Sicherheit nichts als eine Selbsttäuschung sein? Nein! Wütend ballte er die Fäuste, hieb auf den Tisch, dass Kette und Ringe tanzten. Es waren nur die ungebetenen Geister der Einsamkeit, die versuchten ihn in den Wahnsinn zu treiben. Aber er würde niemals aufgeben, sondern weiterkämpfen, bis er die Gerechtigkeit und Genugtuung erfuhr, die ihm zustanden. Das war er sich schuldig! Entschlossen stand er auf und öffnete eine weitere Geheimtür. Dahinter gelangte er in einen Durchgang, der in schmale Stufen mündete, die wiederum in die Tiefe führten. Alles war geradewegs in den Fels gehauen und wesentlich enger als die anderen Gänge unter dem Heiligtum. Zwei Mann könnten hier nicht nebeneinander laufen, aber er war ohnehin der einzige Besucher. Außer ihm lebte niemand mehr, der von diesem Versteck wusste.
    Immer wieder blieb er stehen, nach Atem ringend. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Mehr als einmal stolperte er vor Erschöpfung, bis er ernsthaft in Erwägung zog umzukehren. Lange stand er an die grob behauene Wand gelehnt. Schließlich schleppte er sich weiter. Zeit verging, Wasser tropfte, sammelte sich, rann über Stein, die Treppe wurde rutschig. Nichts konnte ihn aufhalten. Die
    Stufen endeten, wurden zu einem Durchgang und führten in ein Labyrinth aus Wegen. Er brauchte kein Zeichen, um zu wissen, welcher der richtige war. Zu oft schon war er ihn gegangen. Auch die zwölf Tore, rings um eine Quelle angeordnet, verwirrten ihn nicht. Er wusste, hinter welchem sich sein Ziel verbarg. Kaum hatte er das Holz berührt, öffnete sich ein weiterer runder Raum. Weiß gekalkte Wände reflektierten unnatürliches Licht, das im Moment seines Eintretens aufleuchtete. In der Mitte stand auf einem Podest ein Sarg. An den vier Ecken des Deckels waren Ketten befestigt, die nach oben führten und allesamt von einem Ring gehalten wurden, welcher an einem Flaschenzug befestigt war, den ein kräftiger Mann allein bedienen konnte. Eines Tages würde er ihn benutzen, um allem ein Ende zu bereiten, nur war die Zeit noch nicht gekommen, sagte er sich, als er vor ihr stand.
    »Könntest du die Augen öffnen, was würdest du sehen? Mich – oder den Erwählten?« Er beugte sich dicht hinunter zu der schlafenden Gestalt. Beinahe berührte er den Schrein. Wände aus Eisen umgaben die Liegende, der Deckel aus geschmiedeten Stäben enthüllte und hielt doch gefangen, zerschnitt gleichsam die Schönheit, das zarte Gesicht. Er wusste, dass sie ihn hören konnte, und besäße sie die Fähigkeit zu reden, würde sie ihm gewiss keine Antwort geben. Ihre Zerbrechlichkeit konnte ihn nicht über ihren Stolz und Hochmut hinwegtäuschen. Manche Dinge vergehen nie, dachte er, erfüllt von wohlbekannter Bitterkeit. Niemals!
    »Wie viele Jahre ist es her? Kannst du dich noch erinnern?« Er legte den Kopf schief. »Zählst du die Stunden, bis du erlöschen wirst? Hast du jemals daran gedacht, dass auch du endlich sein könntest? Keiner von euch hat je geglaubt, dass eure Macht zu brechen ist. Und sieh, nichts als Staub ist von eurem Reich übrig! Staub und ein Irrlicht.« Seine Lippen verzogen sich und schafften doch kein Lächeln. Je länger er die eisenumrahmten Fragmente ihres Gesichts betrachtete, desto stärker brach sein Inneres auseinander. Er konnte nicht sagen, ob Hass oder Verzweiflung ihn zerfraß. Sein Blick glitt über ihr Gewand. Ein Schleier nur, der zu viel von ihrer weißen Haut durchschimmern ließ. Langsam streckte er den Arm aus,

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