Die Flammen der Dunkelheit
Kinder aus der Welt verschwanden! Doch es gab Anzeichen, dass die Zukunft anders verlaufen könnte, als in Maidins siebter Prophezeiung vorausgesagt. Der eine Junge schwebte bereits einmal in Lebensgefahr!
Wieder und wieder grübelte er über die achte und letzte Prophezeiung nach, deren Bedeutung noch niemand enträtselt hatte. Aithreo zog das zerknitterte, fast gänzlich unlesbar gewordene Pergament aus der Tasche, auf dem er die Worte notiert hatte. Er las sie laut vor in der Hoffnung, dass sich vielleicht allein durch den Klang ihr Sinn erschließen würde:
Dunkelheit wird das Dunkle verschlingen,
eine Krone Wolken und Kälte besiegen.
Die Scherben werden niemals ein Ganzes ergeben
und Hoffnung entflieht ins Grau.
Dies klang sogar an diesem tröstlichen Ort nicht nach einer frohen Botschaft! Wie immer spürte Aithreo nur Ärger und Verzweiflung in sich aufsteigen statt einer Eingebung, was Maidin gemeint haben könnte.
»Gib mir ein Zeichen«, rief er und das Echo hallte von den Wänden. Ob er sie ein weiteres Mal aufsuchen sollte? Es konnte doch nicht sein, dass sie ihr Volk im Stich ließ! Er dachte an Grian, die seit dreihundert Jahren im Sterben lag. Selbst mit ihr hatte Maidin kein Erbarmen. Wer war grausamer, die Mutter oder die Häscher Jalluths? Er hatte Mühe, es zu entscheiden. Vielleicht waren es keine Prophezeiungen, schoss es ihm wie schon zuvor durch den Kopf. Möglicherweise hatte Maidin nur eine Anzahl verrückter Gedichte verfasst. Es gelang ihm, sich einige Augenblicke an diesen Strohhalm zu klammern, bis ihm bewusst wurde, dass dies noch schlimmer wäre, denn dann bliebe ihnen nicht einmal die Hoffnung auf Grians Befreiung. Vermutlich war es ein Fehler, wenn er sich mit den unverständlichen Vorhersagen beschäftigte, ob es nun tatsächlich welche waren oder nicht. Er sollte sein Augenmerk lieber auf die Dinge richten, die im Moment geschahen und die er beeinflussen konnte. Das erinnerte ihn daran, dass er Lasair fragen musste, ob sie es endlich geschafft hatte, den Jungen auf den Weg in die Stadt zu bringen. Schwerfällig erhob er sich, als hätte er menschliche Gebrechen, und machte sich auf den Weg. Dem munteren Rauschen des Wasserfalls schenkte er keine Beachtung mehr. So sah er nicht, wie sich das Türkis des Wassers langsam in tiefes Rot verfärbte und ein Gesicht auf der Oberfläche erschien – sein eigenes.
Ardal rannte durch die Gassen, die in gleißend helles Licht getaucht waren. Vor ihm ragte plötzlich das Heiligtum auf, größer, dunkler, bedrohlicher denn je. In seinem Schatten sah er Benen. Ardal blieb stehen und wollte ihn zu sich rufen, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Er fasste sich an die Kehle und spürte eine klaffende Wunde unter bebenden Fingern. Die Schatten wurden tiefer, verschluckten
Benens Füße, krochen seine Beine hinauf und Ardal rannte weiter. Er musste den Sohn erreichen, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Schon konnte er Benens Bauch nicht mehr sehen, dann die Brust. Sein Sohn riss die Arme hoch, die Augen waren vor Entsetzen weit geöffnet. Das war das Letzte, was Ardal erblickte, bevor sein Kind in der Finsternis verschwand.
Mit einem Schrei fuhr er hoch. Gleich darauf stürzte Benen in die Kammer. Ardal konnte sich nicht rühren, während der Junge mit zitternden Händen versuchte ein Licht zu entzünden. Endlich erhellte eine Flamme den Raum, und Ardal spürte, wie die Lähmung von ihm wich. Zur selben Zeit begann sein Herz in nie gekannter Angst zu rasen. »Benen«, flüsterte er heiser.
Der Junge setzte sich zu ihm. »Hast du wieder einen bösen Traum gehabt, Vater?«, fragte er. Ardal nickte und zog ihn an sich. Er hielt ihn so fest, dass Benen versuchte sich loszureißen. »Du tust mir weh, Vater!«, klagte er.
»Verzeih mir«, murmelte Ardal und lockerte den Griff. Aber loslassen konnte er das Kind nicht. Der dunkle Schatten! Seit Langem hatte er gespürt, wie dieser sich näherte, und jetzt hatte er ihn zum ersten Mal gesehen. Nie hatte er sich den Gedanken erlaubt, dass der Schatten mit Benen zu tun haben könnte, er wollte ihn nicht Wirklichkeit werden lassen. Doch der Schatten folgte seiner eigenen Macht und suchte sich unbeirrt sein Ziel. Wie konnte er das Schicksal abwenden? Ardal stiegen Tränen in die Augen, er wagte sich noch nicht einmal einzugestehen, was dieses Schicksal sein könnte. Er durfte es nicht beschwören! Den Rest der Nacht verbrachte Ardal mit seinem Sohn im Arm und ohne noch einen einzigen Moment zu
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