Die Flammen der Dunkelheit
schlafen.
Am nächsten Morgen hatte er Mühe, sich von Benen zu verabschieden und in die Schreibstube zur Arbeit zu gehen. Schließlich zwang er sich dazu, er wollte den Sohn nicht unnötig beunruhigen. Mit schwerem Schritt schleppte er sich durch die Gassen, die so ganz anders als in dem Albtraum wirkten. Der Granit der Häuserwände ließ sie düster wirken, zumal sich das Grau in der dichten Wolkendecke über ihren Köpfen wiederholte. Das Heiligtum wirkte noch dunkler als sonst und flößte ihm Unbehagen ein. Es gab keine Fenster in diesem Bau und die Priester achteten darauf, dass das schwere Tor stets geschlossen war. Ardal fragte sich erneut, was es bedeutete, wenn man dem Licht keinen Zutritt gewährte. Vielleicht hatten sie Angst, der Wind würde ihre Flammen auspusten, die nur ein kläglicher Gegenpart zur Kraft der Sonne waren. Dieser Gedanke erheiterte ihn nicht wie sonst. Widerwillig betrat er das Nebengebäude und suchte sein Pult auf. Heute musste er Langsamkeit nicht vortäuschen, er kam kaum voran mit den Schriften, weil ihm der Kopf schwirrte. Konnte es wirklich sein, dass er Benens Tod vorhergesehen hatte? Oder war es nur ein ganz gewöhnlicher Albtraum, wie ihn Menschen nun mal ab und zu hatten? Wie könnte er eines vom anderen unterscheiden? Waren die Schatten der letzten Nacht tatsächlich die Bedrohung, die er seit Langem näher kommen spürte? Gab es einen Weg, sein Schicksal zu ändern? Wer legte fest, dass es unausweichlich war?
Um nicht vor lauter Sorge den Verstand zu verlieren, beschloss Ardal, dass es sehr wohl möglich war, das Schicksal zu beeinflussen, und er würde auch herausfinden wie! Doch zunächst wartete eine andere Aufgabe auf ihn.
In der Mittagsstunde schlich sich Ardal wie gewohnt auf den Dachboden, um zu prüfen, ob eine Nachricht für ihn gekommen war. Er hatte lange nichts mehr von dem Boten gehört, doch heute lag ein Holzstäbchen auf dem Balken. Es dauerte, bis er die Rinde aus dem Holz befördert hatte, seine Finger zitterten immer noch oder vielleicht auch schon wieder, weil er befürchtete, die Botschaft könnte dem Schatten die Tür öffnen. Mit gerunzelter Stirn las er die Zeichen. Er sollte einen rothaarigen Jungen namens Glic bei sich aufnehmen! Verblüfft blinzelte er, bis ihm plötzlich aufging, um was für ein Kind es sich handeln könnte. »Nein!«, flüsterte er. »Das kann ich nicht. Das ist zu viel! Ich tue doch schon, was mir möglich ist!« Ardals Knie gaben nach und er sank auf die Truhe. Wie sollte er all das bewältigen? Durch die Suche im Archiv und den Verliesen war Benen sowieso in Gefahr. Ein Windstoß fegte durch die Dachluke und Ardal zuckte zusammen. »Jetzt fürchte ich mich schon vor dem Wind!«, sagte er und lachte bitter. Die Tauben neben ihm pickten unbeeindruckt von seinen Ängsten und Nöten in ihrem Verschlag nach Körnern. Seufzend stand Ardal auf und ging nach unten zurück in die Schreibstube, das Holz entsorgte er vorher in einem der brennenden Kamine.
Er hatte kaum etwas bewältigt an diesem Tag und das Archiv suchte er heute auch nicht auf, geschweige denn das Verlies. Es zog ihn nach Hause. Unterwegs überlegte er, ob er Benen von dem fremden Jungen erzählen sollte, den sie aufnehmen würden. Im Gegensatz zu ihm selbst würde sein Sohn sich bestimmt freuen, denn er litt unter dem Geheimnis ihrer Herkunft und der damit verbundenen Einsamkeit. Aber das war nichts gegen die bitteren Vorwürfe, die Ardal sich machte, denn er hatte dem Kind die Mutter genommen und alles nur, weil er sich in die falsche Frau verliebte. Diese Erinnerungen waren schmerzhaft, und es wollte ihm nicht gelingen, ihnen zu entfliehen. Zu den merkwürdigsten Zeiten kamen sie ihm unerwartet in den Sinn. Vielleicht war es heute weniger unerwartet, trotzdem hätte er viel darum gegeben, vergessen zu können. Doch das Bild ihres bleichen Gesichts verfolgte ihn die ganze Strecke bis nach Hause, als wäre sie ein böser Geist. Nein, verbesserte er sich, Benens Mutter war eine gute Frau gewesen, sanftmütig und hilfsbereit. Aber ihr Vormund war ein fanatischer Flammenkrieger, der sie von klein auf mit seiner Ansicht über Dämonen geprägt hatte. Keinen Augenblick hätte sie gezögert, den Ehemann auszuliefern, wäre ihr klar geworden, dass sein Blut zwei Farben besaß. Ebenso wenig Skrupel hätte sie beim eigenen Sohn gehabt, der für sie dann nur noch die Brut des Bösen gewesen wäre. Das hatte er viel zu spät und erst in dem Moment begriffen, als er sah,
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