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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Meer und dem Näherkommen zu tun. Plötzlich gleichzeitig Marlene und dem Meer gegenüberzustehen, das wäre doch zu viel, das ist ihm klar. Das würde heißen, das Schicksal zu sehr herauszufordern.
    Bereits vor acht Uhr ist er auf dem Weg. Sitzt ganz allein im Abteil, nicht einmal einen Schaffner hat man zu dieser unchristlichen Zeit wecken können. Das Meer rollt grau und krankhaft blass vor dem zerkratzten und von Salz zerfressenen Fenster hin und her, Himmel und Strand sehen dumpfig aus, und alles zusammen scheint sich nach der Dunkelheit zu sehnen. Automatisch wird an verlassenen kleinen Haltestellen angehalten. Kein Mensch ist zu sehen, nirgends. Maertens ist sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Lokomotivführer gibt. Zumindest hat er keinen gesehen, aber schließlich sitzt er auch in dem hinteren der beiden Waggons.
    Als führe man in eine große Leere, denkt er. Ein ganz angenehmer Gedanke eigentlich, nicht im Geringsten erschreckend. Er gähnt. Schaut seine Reisetasche und die Aktentasche an, die auf dem gegenüberliegenden Sitz schaukeln. Die Aktentasche ist so gut wie leer. Er hat sie erst im letzten Moment mitgenommen, als er sich daran erinnerte, dass er etwas braucht, um die Bücher nach Hause zu transportieren. Er hat beschlossen, vierzehn Stück auszuwählen, nicht mehr und nicht weniger.
    Vierzehn Bücher. Eines für jedes Jahr im Gefängnis.
    Ein ziemlich geringer Preis.
    Um nicht einzuschlafen, nimmt er das Tagebuch heraus und liest. Das hat keinen Stil, denkt er. Überhaupt keinen Stil. Einen Moment lang erwägt er, es aus dem Fenster zu werfen, lässt es aber dann doch sein. Es wäre doch zu ärgerlich, wenn es jemand finden würde ... Er stopft es in die Tasche und isst stattdessen eine Banane. Sie ist bereits ziemlich weich, irgendwie passen Bananen und Reisen einfach nicht zusammen, der Gedanke ist ihm schon früher gekommen. Der Zug legt sich in eine lang gestreckte Kurve und nimmt dann das normale Rütteln wieder auf ... wie eine Ente auf Rädern, denkt er und erlaubt sich ein schiefes Grinsen. Eine lange Reihe Eisengänse auf Rädern ... watsch, watsch. Es sind wahrhaft spektakuläre Bilder, die sein Gehirn an diesem müden Sonntagmorgen gebiert. Watsch, watsch ...
     
     
    Er wacht davon auf, dass Marlene ans Fenster klopft und ihm mit Gesten zu verstehen gibt, dass er aussteigen soll. Sie trägt rote Handschuhe, wie er bemerkt, die das Klopfgeräusch ein wenig dämpfen. Verwundert schaut er auf die Uhr. Es ist zehn Minuten nach neun ... Während er am Schlafen war, ist ein gebeugter kleiner Kerl an Bord gekommen. Er sitzt etwas entfernt und starrt ihn mit gelben Augen an.
    »Wollen Sie hier raus? Dann sollten Sie sich aber beeilen!«
    Maertens gehorcht umgehend.
    Der Wagenkorso rattert weiter. Er stellt seine beiden Taschen ab, um Marlenes leichte Umarmung erwidern zu können. Dann stehen sie auf dem schmalen Bahnsteig ... und da es nichts Trübsinnigeres geben kann als einen kleinen Bahnhof, den der Zug gerade verlassen hat, hat er den Eindruck, als wären sie die einzigen Menschen auf der ganzen Welt.
    Es ist ein Gefühl, dass ihn nicht loslässt, und er ahnt bereits, das es ihn die ganze kommende Woche verfolgen wird.
    Eigentlich ist es nichts Neues. Jeder Mensch ist in gewisser Weise der einzige Mensch. Das haben wir bereits mit der Muttermilch eingesogen, denkt er.
     
     
    Das Haus liegt ein ganzes Stück außerhalb des eigentlichen Ortes. Es handelt sich um eine große alte Holzvilla mit Glasveranda zum Meer hin, schrägem Ziegeldach, Balkonen nach Süden und Norden. Gebaut fast bis an die Sanddünen, wie es scheint, in provozierender Nähe zu den Wellen, aber doch mit einer gewissen, ganz selbstverständlichen ... Berechtigung. Eine Art abblätternde Landmarke, mit den Jahren über jeden Zweifel erhaben. Sogleich hat Maertens das Gefühl, schon früher einmal hier gewesen zu sein. Seine Gedanken flattern herum und verwirren sich für einen Moment, aber dann wird ihm klar, dass es sich nicht um eine bestimmte Erinnerung handelt, sondern um ein Allgemeingut... Tschechow, denkt er. Tage, die sich dahinziehen. Leben, das bereits gelebt wurde. Er hat »Der Kirschgarten« vor nicht einmal einem Jahr geschrieben, kein Wunder, dass er alles wiedererkennt.
    Niedriger, verkrüppelter Nadelwald wächst schützend auf drei Seiten. Nur zum Meer hin ist die Sicht frei. Er kann kein einziges Haus in der Nähe entdecken ... Wenn es Abgeschiedenheit ist, die Tomas und Marlene

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