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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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verborgen bleiben wird. Eine Bedeutung, die sich dennoch für ein höheres Wesen finden lassen muss, ein für alle Lebewesen gleichermaßen unbegreifliches Geschehen ...
     
     
    »Die hat mich gestochen!«
    Leon stellt sein Glas hin und schlägt das halb ertrunkene Insekt mit den »Principia Ethica« tot. Sein Gastgeber schaut ihn verständnislos an.
    »Die Wespe? Hat sie dich gestochen? Wo?«
    »In die Zunge.«
    »In die Zunge?«
    Der Schmerz ist nicht der Rede wert. Ungefähr wie eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt, ein fast angenehmes, prickelndes, elektrisches Gefühl.
    Aber die Zunge schwillt schnell an. Verwundert registriert Leon, wie sie in seinem Mund wächst. Sie wird größer und größer, wie etwas unsinnig Gärendes, Pulsierendes, Anschwellendes...
    Sein neuer Freund versteht sofort, noch ehe er es selbst begreift. Er läuft in die Wohnung, wirft dabei zwei Stühle um, stürzt zum Telefon und ruft ein Taxi.
    Dann zieht er Leon hoch, und die beiden machen sich auf den Weg. Draußen auf der Straße merkt Leon, dass er nicht mehr richtig sprechen kann. Aber die Atmung funktioniert durch die Nasenkanäle bis auf weiteres noch einwandfrei. Der Wagen kommt, sie stürzen sich auf die Rückbank, und Tomas Borgmann lässt den Fahrer über den Ernst der Lage nicht im Zweifel.
    »Zum Krankenhaus!«, ruft er. »Mein Freund hat einen Wespenstich in die Zunge abbekommen. Es geht um Leben und Tod!«
    »Quansch«, sagt Leon. Versucht vergeblich, sich mit den Händen verständlich zu machen.
    »Das denke ich nicht«, widerspricht Tomas und umfasst Leons linke Hand mit seinen beiden. »Bleib jetzt ganz ruhig. Lehn dich zurück! Es wird schon alles gut werden ... es macht doch keinen Sinn, wenn etwas so verflucht Abortierendes ausgerechnet jetzt eintreffen sollte.«
    »Aaa ...er«, sagt Leon. Er spürt, dass er sich gleichzeitig dankbar und ein wenig resigniert fühlt. Dann lehnt er sich zurück und beginnt zur Verwunderung aller Beteiligten zu schnarchen.
     
     
    Die Ärztin war eine große, dunkle Frau. Ihr Gesicht drückte Wohlwollen aus, und ihre Hand war sicher. Sie legte Leon auf den Rücken, befahl Tomas, sich auf seine Beine zu setzen, worauf sie schnell den angeschwollenen Muskel aufschnitt und das Gift herausholte. Das Ganze dauerte höchstens zwei Minuten.
    Anschließend gab sie Leon eine Plastiktüte mit Eiswürfeln, auf der er lutschen sollte, und erteilte ihm die Anweisung, eine halbe Stunde ruhig liegen zu bleiben. Dann verließ sie das Behandlungszimmer, um sich dem nächsten Unfall zu widmen. In der Türöffnung drehte sie sich zu Tomas um.
    »Sie können gern hier bleiben, aber vermeiden Sie es bitte, mit dem Patienten zu reden, ja? Es wird schwierig genug sein, die Zunge noch im Zaume zu halten.«
    Tomas nickte ergeben. Warf Leon einen aufmunternden Blick zu und stellte sich ans Fenster, dreißig Grad außerhalb von dessen unmittelbarem Blickfeld.
     
     
    In diesen Positionen verharrten sie. Leon auf der Liege, die nichts sagenden Rautenmuster der Decke anstarrend – den Mund voll mit Eiswürfeln und einen großen Stapel Papierhandtücher in Reichweite. Tomas am Fenster, die Hände auf dem Rücken, zwischen den Jalousien auf den sich verdunkelnden Augusthimmel starrend. Was er dachte oder worüber er in diesen dreißig Minuten grübelte, davon hatte Leon nicht die geringste Ahnung. Was ihn selbst betraf, so würde er sicher behaupten, dass er in erster Linie über Anselm von Canterburys Gottesbeweis nachdachte, dem so genannten ontologischen, aber beschwören will er es nicht. Vielleicht ist auch das nur eine spätere Neukonstruktion.
    Als die Ärztin nach der vereinbarten halben Stunde zurückkommt, kann sie feststellen, dass die Zunge deutlich auf dem Weg der Besserung ist, wenn auch noch ein wenig angegriffen. Sie bestreicht sie mit einer Salbe, die nach Naphthalin schmeckt, und erklärt Leon, dass er sicherheitshalber die Nacht auf der Station verbringen soll. Für den Fall, dass noch etwas passiert, man kann ja nie wissen.
    Zu Leons Verwunderung bringt Tomas nun seinen Wunsch hervor, ihm Gesellschaft leisten zu dürfen ... um ein wachsames Auge auf ihn zu haben sozusagen, falls das möglich wäre, und da sich herausstellt, dass das andere Bett in dem Zimmer, das für Leon reserviert ist, frei ist, stößt dieses Arrangement auf keine Hindernisse.
    »Meinen allerherzlichsten Dank«, sagt Tomas Borgmann.
    »Kank«, sagt Leon.
     
     
    Nachdem sie sich also nicht einmal drei Stunden kannten,

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