Die Fliege Und Die Ewigkeit
gehen sie an diesem Abend im gleichen Zimmer auf der Station 54 im Benedictuskrankenhaus in Grothenburg zu Bett. Es ist immer noch ein schöner Abend. Sie liegen da und sehen, wie die letzten Reste des Sonnenuntergangs sich in rotem Licht durch die Metalllamellen der Jalousie zwängen, und auch wenn die ärztliche Anordnung mehr als eindeutig war, so kann man natürlich nicht von Tomas Borgmann erwarten, dass auch er gezwungen sein sollte, bis zum Einschlafen zu schweigen. Was Leon betrifft, so schweigt dieser, er saugt auf neuen Eisstückchen, während er seinen schmerzenden Sprachmuskel dreht und wendet, und Tomas... ja was anderes soll er machen, als seine Geschichte zu erzählen? Curriculum vitae.
Tomas Emmanuel Borgmann also. Sohn des Bischofs von Würgau. Das einzige Kind überdies und faktisch in K. geboren, wo sein Vater während der Kriegsjahre und schon eine Weile zuvor als Gemeindepfarrer tätig gewesen war.
Hier unterbricht ihn Leon verständlicherweise. Weist eifrig darauf hin, dass K. auch sein Heimatort ist, und bekommt dafür die Hemdenbrust voll Blut. Tomas hilft ihm, sich zu säubern, sie schaufeln weitere Eiswürfel in seinen Mund, und Tomas erklärt, dass er nur bis ungefähr zum Schulalter dort wohnte. Bald zog man um nach Leiden ... Der Vater arbeitet an seiner Karriere, der Junge wird in die Schule gesteckt, die Mutter stirbt an Tuberkulose. Zurück bleiben die beiden. Der Vater und der Sohn. Doch, der heilige Geist vielleicht auch noch.
Er macht eine Pause. Geht ans Fenster, bekommt es mit einiger Mühe auf und zündet sich eine Zigarette an.
»Soll ich weitererzählen?«
Leon nickt.
»Und du? Ein andermal dann ... willst du rauchen?«
Leon schüttelt den Kopf.
Tomas nimmt den Faden wieder auf. Erneuter Umzug, die Ernennung zum Bischof, wieder ein Umzug ... Der Sohn wächst heran, erwartungsgemäß oder gegen alle Erwartungen, und plötzlich, eines Tages, ist es Zeit, seinen Weg ins Leben zu wählen. Für den Bischof selbst ist das kaum eine Frage. Dass der Sohn in die Fußstapfen des Vaters treten wird, ist eine unausgesprochene Forderung, eine Selbstverständlichkeit... Wenn er anderes im Kopf hat, dann muss er seine Siebensachen packen und in die Welt hinaus gehen.
Tomas zieht am gleichen Nachmittag aus. Wohnt eineinhalb Jahre lang bei einer halbphilanthropischen Tante, während er sich als Helfer einer Sprengpatrouille beim Missentunnelprojekt über Wasser hält – dessen zweites und letztes Kapitel genau in dieser Zeit geschrieben wurde. Durch die Arbeit bekommt er Schwielen an den Händen, wie er hinzufügt, sowie einen leichteren Hörschaden – nur ein leises Sausen (eigentlich sein einziges Manko, wie Leon bei einer späteren Gelegenheit denken wird ... er sieht so ausgesprochen gut aus, dieser junge Philosoph, hat Chancen bei den Frauen wie nur wenige, mit seinem scharf geschnittenen Gesicht, seinen tief liegenden, intensiven Augen, seiner distinguierten Erscheinung, ein schöner, begabter Jüngling, und mit einem Charisma, das ihn sicher in welcher Lage auch immer zum Favoriten machen wird ... aber das ist nun nichts, worüber Leon in diesen Momenten der einsetzenden Dämmerung im Benedictus nachdenkt, sondern erst viel später ... wenn überhaupt, wie gesagt), und mit der Zeit kommt es zur Versöhnung mit dem Vater. Der Sohn zieht wieder daheim ein, schreibt sich für zwei Jahre in der theologischen Fakultät ein, unter der Bedingung, hinterher freie Hand zu haben.
Tomas schaut Leon fragend an. Dieser dreht die Zunge, nickt zustimmend.
Nun, es sind also diese freien Hände, die er später in die Philosophie gesteckt hat. Die Urmutter aller Wissenschaften und ihre solide Basis, die Wiege allen Denkens ... ja, ja, schon gut, wir sind auch aus der Branche ... im Laufe des letzten Jahres ist er dort gewesen, an der Universität in Lewisham, wo sein Vater eine Gastprofessur in Theologie hatte. Tomas hat sich in etwas ... ein wenig vertieft, wie es nach einem gewissen Zögern formuliert wird. Hat geschrieben, unnötig, jetzt näher darauf einzugehen. In aller Bescheidenheit natürlich, sicher wird man noch ausreichend Gelegenheit finden, es später zu diskutieren. Er möchte natürlich erfahren, was der Freund über die Essays denkt ... in erster Linie handelt es sich um Ethik, sowohl um Meta- als auch um normative Ethik, aber auch um reine Ontologie ... Metaphysik, wenn der Ausdruck gestattet ist.
Und jetzt, jetzt bestätigt sich endlich das, was die ganze Zeit
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