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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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schon in den Sternen geschrieben sein muss, den ganzen Abend. Das, was Leon in einer verborgenen Ecke seines Gehirns bereits ahnte, seit er sah, wie sich mitten in den »Principia Ethica« ein Kopf über den Fensterrahmen schob: Sie werden Studienfreunde werden.
    Kollegen! Bei dieser Feststellung verstummt Tomas und sieht plötzlich ganz ernst aus. Was Leon betrifft, so schluckt dieser ein Eisstückchen hinunter und versucht sich an einem Lächeln. Mit schlechtem Ergebnis, betäubt, jämmerlich und unentschlossen.
    Natürlich werden sie beide in gut einer Woche in der gleichen Einführungsvorlesung sitzen, in der für die Drittsemester... Leon lutscht auf der Zunge, das Naphthalin ist weg, er spürt die Halsschlagader pochen und die Schläfen. Zweifellos ist er ein wenig verwirrt, es geschieht ein bisschen viel an diesem Abend in diesem trägen Sommer ... oder gegen Ende des Sommers genau genommen, der Herbst ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr weit. Und jetzt schwingt Tomas ein Bein über die Bettkante, steht auf und macht die Deckenbeleuchtung an. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, und die Leuchtstoffröhre ist plötzlich viel zu nackt und grell. Tomas brummt etwas von Operationsbeleuchtung, löscht sie aber trotzdem nicht, kommt wieder zurück ans Bett. Um der Wahrheit gerecht zu werden, so ist Leon dankbar dafür, schweigen zu dürfen, dankbar, seinem Innersten keine Stimme verleihen zu müssen in diesem Augenblick... Vielleicht weil er sie nicht richtig unter Kontrolle hat, natürlich nur deshalb.
    »Kollegen, verdammt noch mal!«, wiederholt Tomas und holt die Zigaretten heraus.
    Leon brummt und dreht sich im Bett. Nimmt frische Tücher. Lässt die Gedanken zu. Die gleiche alte unterdrückte Frage, die ihn natürlich immer wieder in Unruhe versetzt, ihn schwanken lässt und auf einer Antwort beharrt ... Verflucht noch mal! Denn wie man es auch dreht und wendet, wie man die Lage und das spezifische Gewicht der Seele auch beurteilt, so ist und bleibt er doch ein Einzelgänger, dieser Leon. Der einsame Wolf Delmas! Nach einem halben Dutzend Semestern an dieser herrlichen Universität, an der es von genialen jungen Menschen aller Fächer und Arten nur so wimmelt, sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts natürlich, hat er sich bis jetzt noch nicht die Mühe gemacht, einem davon näher zu kommen. Sich ihm zu nähern. Mit Ausnahme von Vera natürlich, aber nach ihr und ihrem wunderbar lispelnden roten Mund waren die Kontakte spärlich gesät. Nicht, dass er darunter gelitten hat, er hätte es gar nicht anders gewollt, das ist natürlich der Punkt. Aber wenn er jetzt Resümee zieht und in den Rückspiegel schaut, und genau das tut er in diesem Moment, so steht dort in Feuerschrift Dürftigkeit geschrieben. Er schaut in den Rückspiegel und zieht Resümee. Alle, neben denen er sich über die Pulte gekrümmt hat, alle, mit denen er Küche und Kühlschrank und Bad in der Bastilje teilte, alle, mit denen er am gleichen Tisch gesessen und das gleiche Hackfleisch unbekannten Ursprungs gekaut hat, bei Madame Hanska und anderswo ... mit keinem einzigen von all diesen hat er bisher auch nur eine einzige Freundschaft geschlossen.
    Da ist niemand, zu dem er gehen würde. Und niemand, der zu ihm kommen würde.
    So sieht es aus. Natürlich hat er darüber nachgedacht. Aber sich Sorgen gemacht? Nein, wohl kaum. Warum die Sache übertreiben? Alles in allem ist es doch nur eine Frage einer höchst legitimen Form der Introvertiertheit, nichts sonst. Ein Bestandteil seines philosophischen Charakters. Na, und wenn schon? Weg mit der Frage! Ein Strich unter die Debatte. Stattdessen die Bücher heraus. Some say life is the point, but I prefer reading!
    Aber jetzt ist er plötzlich an einem Kreuzweg angekommen. Im Guten wie im Schlechten hat dieser Tomas Borgmann sich in seine Welt geschlichen. An nur einem einzigen Abend, und schon ist es zu spät, ihn abzuweisen ... Würde er es denn tun, wenn es überhaupt noch möglich wäre? Das ist natürlich die Frage, das ist das Innerste der Finsternis und des Pudels Kern, wie gesagt ... Während er nicht genau zuhört, was Tomas erzählt, spürt er plötzlich, wie etwas in ihm wächst – vollkommen unabhängig vom Willen, den Gedanken und Präferenzen, eine Art vergessener Sicherheit, wie er meint, etwas fast Biologisches, es ist auch eine Widerspiegelung... etwas, was er durchgemacht hat, aber jetzt seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hat, das verknüpft ist mit abstrusen

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