Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Zimmer? Was macht diese Katze hier? Habe ich nicht gesagt, dass alle Viecher entfernt werden müssen? Bestimmt habt Ihr die Tür nicht richtig verschlossen, als Ihr die Kameras umgebaut habt. Verscheucht das Vieh aus meinem Zimmer!“
Anja packte den schwarzweißen Kater im Nacken und hielt das drollige Tier in die Höhe. Unter seiner Batman-Kappe blickte es sie sehr ernst an.
In diesem Moment schrie Otto G. Klatsch auf und fasste sich an die Brust.
„Was passiert mit mir?“, rief Anjas Chef hilflos. Er knöpfte den obersten Knopf seines blauen Smokings auf und holte tief Luft. Wütend sah er seine Assistentin, die Kameramänner und den Kater an. „Was habt Ihr mir ins Essen getan? Mir ist plötzlich so schlecht.“
Vor den Augen seiner entsetzten Mitarbeiter brach Otto zusammen. Er war sofort tot.
Der Showmaster, der einen künstlichen Sturm im Hospiz entfacht hatte, und sich dem Sterben streng verweigert hatte, weil alles nach Plan weiterlaufen sollte, war nicht mal einen Tag lang in Haus Holle gewesen – weil sich der Tod nicht planen ließ. Als seine Leiche spätnachts aus dem Zimmer getragen wurde, sagte Dr. Albers kopfschüttelnd: „Ottos Auftritt hat mich an diejenigen Gäste erinnert, die morgens einen Vertrag für den Kauf einer neuen Schrankwand unterschreiben – und abends verstorben sind.“
Im Schutz der Dunkelheit wurde Ottos Sarg nach draußen getragen und Dr. Albers schloss die Eingangstür des Hospizes hinter dem toten Star.
Eine Tasse zerbricht
Minnies Krankenwagen war für 9.30 Uhr bestellt. Heute würde sie eine Blutwäsche erhalten und dann über Nacht zur Beobachtung in der Klinik bleiben müssen.
Die alte Dame blickte auf ihre Uhr.
8.15 Uhr.
Sie hatte hervorragend geschlafen. Inzwischen hatte Dr. Coppelius den Bogen raus. Was die Medikamente betraf, war sie optimal eingestellt. Was ihre Schwäche anging – die würde rasch verflogen sein, sobald sie neues Blut erhalten hatte.
Sie freute sich auf das Krankenhaus und auf ihre Rückkehr nach Haus Holle. Dann würde Mike bereits herausgefunden haben, welchen Beruf der alte Knopinski zu Lebzeiten ausgeübt hatte.
„Ich tippe auf… ich weiß es nicht“, dachte sie laut und musterte die alte Frau im Spiegel. Sie war weiß, ja, sogar schneeweiß. Doch die Locken schmückten sie. Außerdem hatte sich Falk Berger über ihren Vorschlag gefreut, die sympathische Friseurin ins Haus einzuladen. „Ende November“, dachte Minnie. „Nun bin ich schon fast vier Wochen hier.“
Sie erinnerte sich daran, dass in der kurzen Zeitspanne vier Menschen gestorben waren – Knut und Gertrud Knopinski, Professor Pellenhorn und, sie konnte es nicht verdrängen, Marius Stamm.
Im Februar und November gibt es die meisten Abgänge . Das hatte Bruno mal gesagt. Trotzdem lag die Zahl der November-Abgänge in diesem Jahr deutlich unter dem Monatsdurchschnitt von zwölf Sterbefällen. Minnie versuchte das zu verstehen, und sie erinnerte sich an eine einfache Erklärung von Dr. Albers: „ Manchmal ist die Situation im Haus tendenziell stabil , doch das kann von einem Tag auf den nächsten kippen. Dann liegen plötzlich alle Gäste im Bett .“
Sie hoffte, dass das nicht geschehen würde.
Zwar war Minnie inzwischen selbst auf einen Rollator angewiesen und Omi lag geschwächt im Bett, aber Bella Schiffer und Marisabel Prinz hielten sich erstaunlich gut – trotz ihrer Gelbfärbung und der knackenden Knochen. Längst hatte Bella ihre Prognose überlebt. Tag X war sang- und klanglos verstrichen. Auch die Feindschaft der Damen blühte stärker als zuvor.
Alles war also beim Alten, auch was die anderen Gäste betraf. Annette Müller plante ihr Familienfest, Montrésor durfte seine Frau wieder in der Klinik besuchen und in Nadines Zimmer roch es nach Joints. Sogar die neuen Bewohner gefielen Minnie. Der reizende Polizist und der junge Facebook-Förster hatten es ihr besonders angetan.
Nur Otto G. Klatsch hatte sie bislang noch nie im Esszimmer getroffen. Die alte Dame nahm sich fest vor, ihn heute um ein Autogramm zu bitten.
Vielleicht war er ja schon unten?
Rasch bestieg die alte Dame den Aufzug, und klammerte sich an ihren Rollator.
Im Geiste ordnete sie ihre Gedanken und Pläne. „Erst gehe ich ins Krankenhaus, dann spreche ich mit Mike und dann warte ich, was sich ergibt.“ Sie war im Reinen mit sich und der Welt. Genau betrachtet, ging es ihr gut: Sie hatte ein Dach über dem Kopf, würde gleich ein hervorragendes Frühstück bekommen,
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