Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
meinte Minnie schaudernd. „Ich meine, ein Ende mit Qualen.“
„Ganz sicher sogar“, erklärte Mike.
„Welches Buch lesen Sie gerade?“
„ Nikotin von Agatha Christie. Zuerst stirbt ein Pfarrer – inmitten einer fröhlichen Runde – an einem vergifteten Drink, dann ein zweites Opfer, das arglos ein mit Nikotin vergiftetes Konfektstück verzehrt. Ich mag diese alte Sprache. Aber wenn man heute selbst ein Buch schreiben würde, was ich unbedingt mal machen möchte, darf man solche Begriffe nicht mehr benutzen. Sonst würden einen die Leute belächeln. Außerdem werde ich wahrscheinlich nie ein Buch schreiben. Mein Deutschlehrer hat mal Redundanz schlechter Rhetorik unter einen meiner Aufsätze geschrieben. Zur Schulzeit hatte ich wirklich noch kein Sprachgefühl. Aber Krimis haben mich schon immer interessiert – was meinen Ehemann übrigens verängstigt. Er fürchtet sich davor, dass in meiner Seele ein Abgrund lauert, den er nicht kennt. Mein Dad und meine Mum jedoch haben immer geglaubt, dass ich schreiben kann. Sie haben mein Selbstbewusstsein gestärkt, indem sie sagten: Egal, was Du im Leben tust – Du kannst immer nach Hause kommen. Wir werden Dich immer lieben, sogar, wenn Du ein Verbrechen begehst.“
„Brrr…“, sagte Minnie. „Aber das würden Sie nie tun, oder?“
„Natürlich nicht“, entgegnete Mike. „Mit einem Verbrechen oder gar der Auslöschung eines Menschenlebens würde ich mein Gewissen niemals belasten. Ich möchte nicht mal indirekt daran teilhaben.“
„Reicht Ihre Phantasie aus, um ein Buch zu schreiben?“
„Ja“, sagte Mike. „Phantasie ist eine Konstante in meinem Leben. Als kleines Kind stand ich mal mit meiner Mutter auf dem Friedhof, und überlegte, was wohl geschähe, wenn ich die Augen kurz schließen und dann wieder öffnen würde. Ich stellte mir vor, ob ich dann vom Kleinkind zum Greis gereift sein könnte – und fand die Vorstellung völlig logisch. Ich konnte mir gut vorstellen, dass das Leben in Wirklichkeit so kurz ist wie ein Wimpernschlag. Natürlich nur rückblickend betrachtet. Meine Mum meinte damals, dass ich viel Phantasie besäße. Von ihr habe ich den Begriff Phantasie zu erstem Mal gehört. Außerdem habe ich direkt nach der Geburt mit den Fingern in der Luft herumgegriffen – stundenlang, tagelang, wochenlang. Alle Menschen waren verblüfft. Vielleicht wollte ich schon damals tippen. Mit einer Computertastatur schaffe ich mehr als 500 fehlerfreie Anschläge in der Minute – und ich habe, wie gesagt, Phantasie.“
„Morbide Phantasie“, meinte Minnie.
„Ich weiß“, sagte Mike. „Wenn man sich für den Tod und für Thriller interessiert, wird man schnell als morbide abgestuft. Aber Suspense à la Hitchcock oder Stephen King machen mich an – und Millionen von anderen Menschen ebenfalls.“
Minnie kaufte die Badstraße. Diese Karte war nicht viel wert. Sie wollte unbedingt den letzten Bahnhof.
„Was denken Sie über Haus Holle, Mike?“
„Angesichts der Lage, in der wir uns befinden, ist es das Beste, hier zu sein“, antwortete der junge Mann ehrlich. „Aber meine Nerven sind total am Ende. Ist es nicht paradox, was wir hier tun? Ich warte darauf, dass ein Mensch, von dem ich mich auf keinen Fall trennen möchte, stirbt.“
So hatte es Minnie noch gar nicht betrachtet. Aber es stimmte. Gewissermaßen warteten sie alle.
„Aber das Haus?“, insistierte sie. „Was denken Sie über das Haus?“
„Es wäre der perfekte Schauplatz für einen Kriminalroman“, sagte Mike trocken. „Ein Haus voller Menschen unterschiedlichster Herkunft, die sich im normalen Leben niemals begegnen würden. Wo sonst treffen alte Damen, junge Schwule, Nazis und Freimaurer aufeinander? Höchstens in der U-Bahn! Aber dort reden sie nicht miteinander. Oder in der Psychiatrie. Aber dort kann man nichts geben auf ihre Gespräche. In Haus Holle jedoch bewegt alle das gleiche Thema – der Tod. Ich finde das total spannend.“
„Ich auch“, sagte Minnie. „Wäre ein Haus wie dieses geeignet für einen Roman von Agatha Christie?“
„Ja!“ Der Journalist antwortete spontan. „Eine exzellente Idee! Und spooky ! Ein kleiner Kreis von Verdächtigen, ein großes Haus und der Tod als Dauergast. Daraus könnte man was machen – mit viel Phantasie.“ Er wurde nachdenklich, würfelte einen Pasch, und übersah, dass er Minnie die Turmstraße vor der Nase hätte wegschnappen können. Stattdessen warf er die Würfel erneut aufs Spielbrett, zog weiter,
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