Die Flotte von Charis - 4
das Innere der trompetenförmigen Kelche des weißen Stacheldorns war von einem tiefen Königsblau, das zum Rand des Kelches hin immer blasser wurde und schließlich in reinstes Weiß überging; der Rand des Blütenkelches schließlich war goldgelb abgesetzt. Es gehörte zu den Hochzeitsbräuchen von Charis, dass die Familie der Brautleute und auch die Gratulanten Stacheldornsträuße mitbrachten, und nun war die Luft in der überfüllten Kathedrale mit dem süßlichen Duft der Blumen derart geschwängert, dass er sogar den Weihrauch übertünchte.
König Cayleb und Königin Sharleyan hatten einer privaten Messe vor Sonnenaufgang beigewohnt, noch bevor die Kathedrale für den allgemeinen Publikumsverkehr geöffnet worden war. Nun, sechs Stunden später, war das gewaltige Gotteshaus bis fast zum Bersten überfüllt, und die Vorfreude schien wie Rauch in der Luft zu liegen. Die wartenden Kirchgänger wirkten wie ein ganzes Meer aus schimmernden Stoffen, Edelsteinen und Schmuck, doch immer wieder fanden sich in jenem Farbenmeer auch deutlich schlichtere Gewänder. Es war Tradition, dass ein Drittel der Sitzplätze in der Kathedrale für die Bürgerlichen reserviert waren − wer zuerst eintraf, erhielt auch einen Sitzplatz −, wann immer ein Mitglied der königlichen Familie heiratete, getauft oder zu Grabe getragen wurde. Die meisten ›Bürgerlichen‹, die diese Tradition nutzten, waren selbst zumindest leidlich wohlhabend, doch es gab immer auch einige Besucher, für die das nicht galt, und am heutigen Tag schien die Zahl der ärmeren Gratulanten erstaunlich hoch.
Na, das ist ja auch ganz natürlich, dachte Merlin Athrawes, während er auf dem Korridor vor den königlichen Gemächern geduldig auf König Cayleb und seine Braut wartete und das aus der Feme übertragene Bildmaterial betrachtete, das sein eigentliches Sichtfeld überlagerte. Die Sensoren, die er und Owl so dicht über die gesamte Kathedrale verteilt hatten, nachdem es zu diesem glücklicherweise misslungenen Attentat auf den Erzbischof gekommen war, lieferten die Daten für das Display und boten Merlin einen vollständigen Rundumblick des ganzen Gotteshauses, den er nach Gutdünken bearbeiten und studieren konnte.
Das Volk dieses Königreiches liebt Cayleb und seine Familie wirklich, ging sein Gedanke weiter, und Sharleyan hat ihre Herzen im Sturm erobert. Sie ist jung, sie ist auf exotische Weise fremdartig, sie ist schön (oder zumindest ziemlich schön!), und sie hat Tausende von Meilen zurückgelegt, um den König dieses Reiches zu ehelichen, auch wenn das bedeutet, sich Seite an Seite mit ihrem Gemahl − und dessen gesamtem Volk! − der Kirche und dem Großvikar persönlich entgegenzustellen. Die Bänkelsänger, die Zeitungen und die Flugblätter haben sie schon fast zu einer Symbolfigur erhoben, und in ihrem Falle war dafür noch nicht einmal sonderlich viel Übertreibung erforderlich. Dieses Mal möchten selbst die Ärmsten der Armen in Tellesberg unbedingt dabei sein, wollen selbst mit ansehen, wie sie Cayleb heiratet.
Ein letztes Mal überprüfte er das Innere der Kathedrale, dann nickte er innerlich. Die anderen Mitglieder der Royal Guard hatten sich genau dort aufgestellt, wo sie auch sein sollten, die Scharfschützen der Marines, die Cayleb dauerhaft für die Kathedrale abgestellt hatte, befanden sich in Position, und sämtliche Sicherheitspläne und -vorkehrungen, die Merlin und Colonel Ropewalk ersonnen hatten, schienen eingehalten und getroffen. Merlin bedauerte zutiefst, dass es erforderlich war, derartige zusätzliche Vorkehrungen überhaupt zu treffen, doch dieses versuchte Attentat auf Staynair und der Brand, der das ursprüngliche Gebäude der Königlichen Hochschule völlig zerstört hatte, waren Beweis genug, dass ihnen gar keine andere Wahl blieb. Und Merlins Position als Oberbefehlshaber von Caylebs Leibgarde machte ihn effektiv zum stellvertretenden Leiter der gesamten Royal Guard, ungeachtet seines relativ niedrigen nominellen Dienstgrades.
So sehr die meisten Cayleb auch lieben mögen: diejenigen, für die das nicht gilt, meinen es heutzutage erschreckend ernst, dachte Merlin düster. Und ich wäre ungleich glücklicher, die ›Tempelgetreuen‹ würden sich nicht zunehmend organisieren. Oder wenn ich wenigstens genug darüber wüsste, wer sie sind und wo sie sich organisieren, um sie im Auge behalten zu können. Dieses Attentat auf Staynair war schon schlimm genug, und um ein Haar wäre es auch erfolgreich gewesen …
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