Die Flotte von Charis - 4
vor allem, weil ich nicht genug über diese Leute wusste (und immer noch nicht weiß!), um sie rechtzeitig erkennen zu können.
Eigentlich hätte er es vorgezogen, keinen einzigen von Caylebs Untertanen ausspionieren zu müssen, und das aus mehrerlei Gründen, darunter auch, dass es sich für ihn anfühlte wie ein grobes Eindringen in deren Privatsphäre − vor allem, da sie nicht das Geringste dagegen unternehmen konnten, selbst wenn sie davon gewusst hätten. Politische Größen wie Nahrmahn oder Hektor im Auge zu behalten, das war das eine, aber wie ein Voyeur gewöhnliche Bürger von Charis zu beobachten, war etwas völlig anderes, und die Tatsache, dass Merlin keinerlei Alternative dazu sah, machte ihn mit seiner Lage keinen Deut glücklicher. Eigentlich machte es ihn sogar deutlich unglücklicher. ›Notwendigkeit‹ war ein gefährlich verführerisches Argument, so unwiderlegbar es gelegentlich auch sein mochte, und Merlin wollte sich wirklich nicht angewöhnen, den Missbrauch seiner Fähigkeiten auch noch zu rechtfertigen.
Die alte Weisheit ›Macht korrumpiert‹ beunruhigt mich, gestand er sich ein. Die ›Vierer-Gruppe‹ ist bereits Beweis genug dafür, und in mancherlei Hinsicht ist meine ›Macht‹ sogar noch größer als die ihre. Oder sie könnte es zumindest sein. Es ist ja schon schlimm genug, dass ich praktisch unsterblich bin, ohne dass ich mir auch noch irgendeine einfache Rechtfertigung überlegen müsste, alle Leute, die eben nicht unsterblich sind, so zu behandeln, als sei ich ihnen ›von Natur aus‹ überlegen. Ich möchte nicht in dieser Art und Weise Teile meiner Seele fortgeben … vorausgesetzt natürlich, Maikel hat recht mit seiner Annahme, ich habe überhaupt noch eine.
Ich frage mich …
Abrupt wurde seine Selbstbeobachtung unterbrochen, als die Tür geöffnet wurde und Cayleb und Sharleyan heraustraten.
Cayleb sah atemberaubend aus in seiner weißen Hose und dem traditionellen charisianischen Kasack aus gelbbraun-bernsteinfarbener Baumwollseide, abgesetzt in einem schweren Grün und bestickt mit dem schwarzgoldenen Kraken seines Hauses. Die Rubine und Saphire auf seiner Staatskrone glitzerten auf seinem schwarzen Haar wie rotblaues Feuer; um seine Schultern lag der karmesinrote Umhang, der zu seinen königlichen Insignien gehörte, besetzt mit dem schneeweißen Pelz einer Bergpeitschenechse, und das Katana, das Merlin ihm überreicht hatte, trug er in einer neu angefertigten schwarzen Scheide an seiner Seite, besetzt mit geschliffenen Edelsteinen und einer silbernen Schließe.
Der Frühmesse hatte Sharleyan in einem prächtigen, maßgeschneiderten Kleid beigewohnt, das sie aus Chisholm mitgebracht hatte, doch für die eigentliche Zeremonie trug sie ein charisianisches Hochzeitskleid. Das hatte sie selbst entschieden − Cayleb hätte es eigentlich vorgezogen, wenn sie ein Hochzeitskleid im Stile von Chisholm getragen hätte, weil das seines Erachtens ein wunderbares Symbol für die Vereinigung ihrer beiden Reiche dargestellt hätte −, doch kaum dass Sharleyan ihrem Wunsch Ausdruck verliehen hatte, war es auch schon zu einem wahren Kampf auf Leben und Tod zwischen den Näherinnen von Tellesberg gekommen, wem die Ehre zuteil werden sollte, das Kleid der Königin entwerfen und schneidern zu dürfen. Das Wetteifern wurde nicht nur mit voller Ernsthaftigkeit betrieben, sondern von sorgsam überlegten, höflichen, zugleich aber unendlich giftigen Bemerkungen begleitet. Merlin war fast schon erstaunt, dass es ganz ohne Blutvergießen zu einem Ende gekommen war, doch er vermutete, nun werde es mehrere Fehden zwischen konkurrierenden Schneidern und deren Nachfahren geben, die sich bis in die fünfte oder sechste Generationen ziehen mochten.
Dennoch musste er − und auch Cayleb − sich eingestehen, dass die Wahl der Königin wahrlich hervorragend gewesen war. Schnell hatte sich herumgesprochen, dass sie darauf bestanden hatte, zu ihrer Hochzeit ein charisianisches Kleid anzulegen, und rasch war daraus ein weiterer Grund geworden, sie ins Herz zu schließen.
Und nicht nur das, dachte Merlin und betrachtete die Königin von Chisholm zugleich mit den Augen des Mannes, der zu werden er sich entschieden hatte, und den Augen der Frau, die Nimue Alban einst gewesen war. Der Stil charisianischer Kleidung passt perfekt zu ihr. Ihr Haar hatte Sharleyan zu einer Kaskade frisiert, die trotz ihrer anmutigen Schönheit völlig natürlich wirkte, auch wenn Sairah Hahlmyn, Mairah Lywkys und
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