Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
auf den gewiss bald nahenden Jüngsten Tag warten wollte. Und der Geißlerführer hatte in dieser Hinsicht weitere Überzeugungsarbeit geleistet. So herzergreifend hatte er gepredigt, dass selbst kritische Seelen schlussendlich sicher waren, es sei das Beste, alles Irdische fortan für wertlos zu erachten und sich stattdessen voll und ganz auf ein gottgefälliges Leben bis zum Tode zu konzentrieren.
Ja, der Wert irdischer Güter zählte für die Geißler nicht. So verkündete ihr Anführer mit den großen, treuen Augen. Doch nachdem sich der Zug zum Weitermarsch formiert hatte und die neuen Mitglieder aufgenommen waren, da hatte es dieser mit einem Male sehr eilig, ein heimliches Gespräch mit Vitus Fips zu führen, in welchem es durchaus um den Wert irdischer Güter ging.
Und eben dieses Gespräch belauschten nun Maja und Ulrich.
» Warum wundert mich das nicht? « , wiederholte die Alte, während sie ihren Kopf mühsam nach vorn reckte, um jedes einzelne Wort der beiden Männer zu verstehen.
Maja und Ulrich hockten hinter einem stinkenden Schweinetrog und mussten sich ständig gegen den neugierigen Rüssel einer hungrigen Sau wehren, deren winzige Ferkelchen quiekend um ihre Beine wuselten. Es war der Stall eines der größeren Ackerbürgerhäuser in diesem Städtchen, in welchem sämtliche Gebäude aus Holz errichtet und durchaus kunstvoll gearbeitet waren, das Ganze in einer Machart, die Ulrich nie zuvor gesehen hatte. In seiner Heimat lebte man in mit Lehm verputzten Flechtwerkhütten, oder aber, wenn man einigermaßen wohlhabend war, in einem Fachwerkhaus mit einem Fundament aus Bruchsteinen. Hier, in den Orten des Ostens, herrschte Holz vor. Alles war aus Holz, selbst die Stadtmauer, die Brunnen, die Kirchtürme und natürlich auch die Häuser und Ställe. Das lag in der Tradition der hier seit Urzeiten siedelnden Slawen, welche sich, so hatte Ulrich auf dem Weg bewundernd feststellen müssen, ausgezeichnet auf die Schnitzkunst verstanden. Überall traf man an Kreuzungen oder auch mitten im Wald auf lebensechte Figuren, welche mehr als häufig christlichen Anstand vermissen ließen, was sie natürlich umso interessanter machte.
Selbst dieser Stall ließ die Geschicklichkeit eines hervorragenden Holzarbeiters erkennen. Doch ebendieser hatte es samt seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter vorgezogen, sein schönes Heim zu verlassen und sich den Geißlern anzuschließen. Ulrich und Maja hatten während der heimlichen Verfolgung von Vitus Fips ihren Weggang beobachtet. Die ehemaligen Bewohner waren keine halbe Stunde fort, da hatte sich der Halunke Fips auch schon in das verlassene Haus geschlichen. Seine Verfolger waren ihm gefolgt, und bald darauf auch der Geißlerführer. Mit diesem führte Fips soeben ein hektisches Gespräch: Offenbar hatte es der andere eilig. Immerhin warteten seine Schäfchen sehnsüchtig und ihre Wunden leckend auf ihn, um von ihm in den nächsten Ort geleitet zu werden.
» Dieses hier ist das beste Haus. Er hat alles zurückgelassen. Sieh in der Schlafkammer nach. Es würde mich nicht wundern, wenn dort Geld und Schmuck versteckt sind « , hörte man den Geißler flüstern.
» Ich weiß, ich weiß, Reinhold. Du musst mir nicht erzählen, wo ich nach Schätzen zu suchen habe « , erwiderte Fips. Seine Stimme klang ruhiger, aber nach wie vor krächzend und unangenehm.
Ulrich hatte ihn anders in Erinnerung. Das letzte Mal, als sie sich begegnet waren, hatte der Bauer den Fremden des Nachts in seine Hütte gelassen. Damals war Fips zwar vernarbt und entstellt gewesen, doch bei Weitem nicht so blass, abgemagert und eingefallen wie jetzt. Er machte einen schrecklichen Eindruck, wirkte fast wie ein aus dem Grabe auferstandener Untoter und passte durch dieses elende Erscheinungsbild sehr wohl zu den Geißlern, denen er sich jetzt offenbar angeschlossen hatte. Doch anstatt mit diesen in Ulrichs Augen irrwitzigen Gestalten zu beten und zu leiden, schien Fips es vorzuziehen, deren soeben verlassene Heime auszurauben. Das verwunderte Ulrich nicht, nach allem, was Marie ihm über ihren Ziehvater erzählt hatte.
» Warum wundert mich das nicht? « , wiederholte auch Maja nun zum dritten Male und bestätigte damit die Gedanken ihres Begleiters.
» So ein seelenloser Teufelsbraten « , flüsterte Ulrich. Bei allem Entsetzen über den skrupellosen Fips war er dennoch in gewisser Weise ein wenig erleichtert. Sie beobachteten den Mann nun schon den ganzen Tag, doch von Marie war keine Spur zu
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