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Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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nach.
    Regino jedoch lächelte beseelt, schaute ehrfürchtig zu den nahen Bergen hinauf und flüsterte: » Meister Rübezahl, es gibt dich also wirklich, wenn selbst Gottesmänner von dir berichten. Was du und deine Diamanten in den böhmischen Bergen sind, das werden Regino und sein Gold im Altvatergebirge sein. Eines Tages können wir uns die Hand von Gleich zu Gleich reichen. Zwei geheimnisvolle Hüter ihrer heimlichen Schätze. Ja, das wär’ doch was. «
    Dann schnappte auch er sich sein Gepäck und schloss zu Johann und Marie auf, die dem voranschreitenden Konrad bereits langsam folgten.

XXXII
    » Nun hebet auf eure Hände,
    dass Gott das große Sterben wende!
    Nun hebet auf eure Arme,
    dass Gott sich über uns erbarme!
    Jesus, durch deinen Namen drei,
    mach, Herr, uns von Sünden frei!
    Jesus, durch deine Wunden rot,
    behüt uns vor dem jähen Tod! «
    Dumpf, schleppend, klagend und in seiner Eintönigkeit erschreckend laut drang dieser Choral durch sämtliche Gassen der kleinen, bloß von Palisaden umgebenen, an der Neiße gelegenen Handwerker- und Ackerbürgersiedlung, welche vor wenigen Jahrzehnten noch eine slawische Gemeinde gewesen war. Es war ein sonderbares, aber dennoch in diesen Zeiten nicht außergewöhnliches Schauspiel, das sich hier zutrug und im Nu sämtliche Einwohner des Städtchens aus ihren Häusern und von ihren Feldern zum Kirchplatz strömen ließ. Ein Geißlerzug hatte den Weg in den kleinen Ort an der Neiße gefunden, eine Horde halbnackter, zerschundener, sich ihrer Sündhaftigkeit bewusster Menschen, die durch die Lande streiften, um allen anderen die heilige Pflicht inbrünstigster Bußfertigkeit vor Augen zu führen, indem sie sich unaufhörlich mit eisengespickten Peitschen marterten. Durch ihr eigenes Leid, so verkündeten sie, strebten sie an, das Leid aller anderen Christenmenschen zu mildern. Und tatsächlich litten sie sehr, sie bereiteten sich im Wahn der Imitatio Christi oft derartige Qualen, dass nicht selten einer oder mehrere von ihnen auf den Kirchplätzen der Städte, wo sie den Leuten ihre Rituale veranschaulichten, im eigenen Blute liegen blieben und starben. Natürlich war dies beeindruckend und erweckte bei vielen Zuschauern den Anschein von Wahrhaftigkeit.
    Würde ein Priester oder Mönch der römischen Kirche derartiges Leid auf sich nehmen?
    Nein, gewiss nicht. Im Gegenteil. Statt ihren zusehends hungernden und verarmenden Schäfchen zu helfen, wurden die Pfaffen immer fetter und schämten sich nicht, auch noch das Letzte von den darbenden Gläubigen zu nehmen, um die eigenen berstenden Tische zu decken und die Goldkammern des Papstes im romfernen Avignon aufzufüllen.
    So dachten viele Menschen in diesen Zeiten, und darum wunderte es nicht, dass den durchaus schaurigen Geißlerzügen die Tore der Städte offen standen und sich Massen an Bewunderern um sie scharten, während es die Pfarrer derweil vorzogen, sich in ihren Kirchen zu verschanzen, bis der verrückte Spuk ein Ende gefunden hatte.
    Waren die Geißler unterwegs, so konnte dies als sicheres Zeichen einer bereits eingetretenen oder drohenden Katastrophe gedeutet werden. Seien es Missernten, Heuschreckenplagen, Erdbeben, Hungersnöte, Kriege, Hochwasser, Seuchen oder auch nur böse Gerüchte. Sobald Derartiges erlebt wurde oder sich auch nur die Kunde darüber breitmachte, zogen sie durch die Lande, diese nahezu unbekleideten, oft kahlrasierten Sünder, welche in Erwartung des Jüngsten Gerichts alles liegen und stehen ließen, um einem charismatischen Führer zu folgen.
    Unkontrollierbar waren sie und trotz ihrer zur Schau gestellten, fanatischen Frömmigkeit ein Gräuel für die Kirche. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis der Heilige Stuhl sich gezwungen sah, etwas gegen dieses Treiben zu unternehmen. Doch noch erfreuten sich die Geißler zu großer Sympathien unter der Bevölkerung, als dass es der Inquisition möglich gewesen wäre, gegen sie als Ketzer vorzugehen. Sollte sich jedoch eines Tages eine Gelegenheit dazu ergeben, so würde man nicht lange zögern und dem Spuk ein gebührliches Ende bereiten.
    » Das große Sterben « , wiederholte Maja die entscheidende Stelle in dem Singsang der unansehnlichen, stinkenden und wunden Gestalten, die in diesem Augenblick an genau dem Platz nahe der Marktkirche zum Stehen kamen, an welchem sie und Ulrich seit etwa einer Stunde rasteten.
    Das große Sterben– dies war also der Anlass ihres Zuges: kein Hagelschauer, keine Heuschrecken, keine seltsamen

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