Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
schmalen, von Wild getretenen Pfad, der vielmehr einem Steig gleichkam, einen gut erhaltenen Fahrweg erblickten, der in Richtung Südosten verlief. Schon die Tatsache, dass sie auf diesem Weg einen Galgen passierten, wies darauf hin, dass sie bald den unbewohnten Teil des Riesengebirges hinter sich gebracht hatten. Wo es eine Hinrichtungsstätte gab, da dürfte eine Burg, ein Dorf oder ein Städtchen nicht weit sein.
» Marie, du darfst nicht unter dem Ding hindurchgehen! « , rief Regino der einzigen Frau in ihrer Gemeinschaft zu, während er selbst sich an einen Mast des Galgens lehnte und nach oben zu dem verlassen und ausgefranst baumelnden Seil blickte. Keine zur Mahnung dienenden Überreste eines Strauchdiebes hingen an dem Balken. Zum Glück, denn ein solcher Anblick ließ Regino jedes Mal erschaudern und an sein eigenes mögliches, gar nicht einmal so unwahrscheinliches Ende denken.
» Ich weiß « , keuchte Marie und machte tatsächlich einen großen Bogen um den Galgen. Sie wusste, was der abergläubische Volksmund einer Schwangeren prophezeite, die unter einer solchen Stätte hindurchging: Einen Wechselbalg würde sie gebären oder eine schreckliche Missgeburt. Auch wenn Marie an so etwas nicht glaubte, so wollte sie dennoch kein Risiko eingehen, verzichtete auf eine Pause und hatte bald zu dem stur an der Spitze wandernden Konrad aufgeschlossen, während Regino und Johann an dem Galgen noch ihre makabren Späße trieben.
» Hier sind viele Wagenspuren « , meinte Konrad, auf den Boden deutend, ohne sich nach Marie umzuschauen. » Das heißt, wir werden bald eine bewohnte Gegend erreichen. «
» Ich wünschte, wir hätten auch einen Wagen. «
Marie konnte es sich selber nicht erklären. Ihr Körper hatte sich kaum verändert, ihr Bauch war nach wie vor flach, aber dennoch fühlte sie sich vollkommen schwach und entkräftet, die Knochen waren schwer, und die Übelkeit nahm von Tag zu Tag zu. Inständig hoffte sie, dass dieser Zustand vorüberginge. Sie wollte so gern den aufmunternden Worten Johanns glauben, der ihr aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Sohn und Bruder gebärfreudiger Frauen erzählt hatte, dass sich spätestens drei bis vier Monate nach der Empfängnis der Körper an die anderen Umstände gewöhnt hatte.
» Dann wirst du zwar rund, aber dafür wieder munterer, Marie. Verlass dich drauf « , hatte er gesagt.
Doch von Munterkeit war Marie in diesem Moment noch weit entfernt, und der Mann, der da die meiste Zeit nur vor ihr ging und sie kaum wahrnahm, trug nicht unwesentlich zu dieser trüben Stimmung bei. Kein Wort hatte er bisher darüber verloren, dass er der Verantwortliche für Maries veränderten Zustand war. Kein einziges Wort. Natürlich hatte sie es ihm gesagt, und es war ihr nicht leichtgefallen. An einem ihrer letzten Lagerplätze war es gewesen, des Nachts, als die anderen beiden bereits schliefen. Aber anstatt ihr beizustehen oder sich gar zu freuen, hatte er sie bloß stumm angeblickt, dann lange verlegen zu Boden geschaut, war schließlich von seinem Lager aufgestanden und erst um Mitternacht, als er glaubte, sie schlafe tief und fest, zurückgekehrt. Am nächsten Morgen hatte er so getan, als hätte es das Gespräch gar nicht gegeben.
» Da ist tatsächlich ein Haus « , sagte er nun. Und diese Aussage war typisch für sein wortkarges Verhalten in den letzten Tagen. Mehr als schlichte Feststellungen kamen nicht aus seinem Mund.
Marie vermied es, sich weiter darüber zu ärgern. Viel wichtiger war, dass dort in einem geschützten Tal, über welchem jedoch gerade eine große, graue Regenwolke hing, tatsächlich ein Haus stand. Ein großes Gebäude war es sogar, von mehreren Hütten umgeben, und es schien bewohnt zu sein, denn Rauch stieg vom Dach empor.
» Wenn mich nicht alles täuscht, ist das sogar eine Poststation « , meinte Konrad. Er war stehen geblieben und blickte mit zusammengekniffenen Augen angestrengt in das Tal hinab.
Sollte er es wagen?
Sie befanden sich im Königreich Böhmen, der Hausmacht der Luxemburger, welche seit einem Jahr nun auch das gesamte Reich beherrschten. Es war nur noch eine Frage von Monaten, bis König Karl zum deutschen Kaiser gekrönt werden würde. Und Karl, das war bekannt, war ein ausgesprochen gut organisierter Herrscher, seine Boten und Reiter durchstreiften ganz Europa und besonders natürlich die Gebiete seiner Hausmacht, von wo der künftige Kaiser seine Haupteinkünfte erhielt. Darum auch diese Poststation, errichtet im
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