Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
mit diesen Qualen versuchten sie den Himmel gnädig zu stimmen, seine Bestrafung der sündigen Menschheit zu mildern und die von ihm gesandten Geißeln zurückzurufen. So befremdlich und grausam es auch war, fast alle Umstehenden verstanden das Verhalten der Geißler und waren ergriffen von der dargebotenen Inbrunst und Bußbereitschaft.
» Unfug « , murmelte jedoch Ulrich. » Widerwärtiger, dreckiger Unfug ist das. «
Offenbar war er der Einzige, der in den Kasteiungen der Geißler keinen heiligen Akt, sondern vielmehr ein abartiges Spektakel erblickte.
» Wegen mir können wir wieder aus diesem Nest verschwinden, Maja. « Und schon wandte er sich zum Gehen, doch Maja blieb wie angewurzelt zurück.
» Was ist? Du findest doch nicht etwa Gefallen an diesem schweinischen Gebaren? « , drängte Ulrich. Er war in den letzten Wochen wieder flinker geworden, die entzündeten Wunden an seinen Füßen begannen zu heilen, nachdem Maja ihn dazu überredet hatte, sich klumpfußartige Gebilde aus mit feuchtem Schlamm durchtränkten Lumpen umzuwickeln. Zwar konnte er somit nur wie ein Storch einherschreiten, aber das war immerhin schneller als das schmerzhafte Humpeln, mit dem er sich bis dahin fortbewegt hatte. Ganz wie der alten Maja war auch Ulrich daran gelegen, das Altvatergebirge zu erreichen. Niemals im Leben hätte er es für möglich gehalten: Aber auch er, der sture, bodenständige Bauer, verfolgte nun ein Ziel, einen Traum. Er wollte ankommen und wiederfinden, was er verloren hatte. Ja, Ulrich hoffte auf eine neue Heimat, und er hoffte auch auf Marie. Sie war alles, was ihm noch geblieben war. Inständig betete er, dass ihr nichts zugestoßen war, als sie zusammen mit dem undurchsichtigen Regino und dem unerfahrenen Johann aufgebrochen war. Ja, hoffentlich war ihr nicht dieser Elende begegnet, dieser Ziehvater, dieser scheinbar so unsäglich herzlose Mensch namens…
» Vitus Fips « , stieß er mit einem Male entsetzt hervor. Denn erst jetzt bemerkte Ulrich, dass Majas starrer Blick nicht auf das blutige Treiben der Geißler, sondern die ganze Zeit über auf eine verborgene Gestalt am anderen Ende des Kirchplatzes gerichtet war. Dort, hinter einem mit Reisig beladenen Karren versteckt, stand er tatsächlich, der Mann, an den Ulrich soeben noch gedacht hatte: Vitus Fips.
» Ist er es tatsächlich? « , fragte Maja ruhig. » Ich dachte es mir. Nie zuvor habe ich ihn mit eigenen Augen gesehen, aber dennoch dachte ich es mir. «
Ulrich hörte ihr nicht zu. Sein alterndes Herz begann mit einem Mal wild zu rasen. Wie ein Irrer stürzte er nach vorn, reckte den Kopf, stolperte über einen am Boden liegenden, halb bewusstlosen Geißler und wäre mit Sicherheit Fips direkt in die Arme gelaufen, wenn Maja ihn nicht plötzlich mit aller Kraft zurückgehalten hätte.
» Ich muss wissen, ob sie bei ihm ist! « , schrie Ulrich und wehrte sich gegen den sehr festen Griff der alten Frau.
» Wir dürfen uns ihm nicht zeigen. Lass uns verschwinden und ihn heimlich beobachten « , zischte Maja und war froh, dass das seltsame Betragen der beiden in dem allgemeinen Trubel, der auf dem Kirchplatz herrschte, nicht auffiel. Ulrich besann sich, duckte sich und ließ sich dann bereitwillig von Maja fortführen.
» Warum wundert mich das nicht? « , raunte Maja.
Die beiden waren Fips den ganzen restlichen Tag über gefolgt. Zwar erweckte er nicht den Anschein, Angehöriger der Geißlerschar zu sein, da er weder Klagelaute und Gesänge von sich gab noch an den brutalen Bußübungen teilnahm, aber dennoch hielt er sich stets in der Nähe dieser Leute auf und war besonders oft in der Gesellschaft des Anführers der Geißlertruppe zu finden. Diesem, einem etwa dreißigjährigen Kahlrasierten mit einer ungeheuer wohltönenden Stimme und riesigen, leidend wirkenden Augen, war es im Laufe seines Aufenthaltes in der kleinen Stadt gelungen, nicht weniger als fünfzehn Leute davon zu überzeugen, sich seiner Büßergruppe anzuschließen, welche ihren Weg weiter bis in die prächtige Stadt Prag fortsetzen wollte. Fünfzehn Bürger, Männer und Frauen, Halbwüchsige und Alte, Arme und auch Betuchte, die aus Frömmigkeit, Bußwilligkeit oder purer Verzweiflung Hab und Gut zurückzulassen trachteten, um das qualvolle Dasein eines Geißlers zu führen. Zu beeindruckend war die Darstellung der Leidenden gewesen, zu elend das Leben der vergangenen Jahre, zu düster die Aussichten für die Zukunft, als dass man ohne Vorkehrungen für das Seelenheil
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