Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
fort. Er hatte nichts von der Aufregung mitbekommen, die dieser Name bei seinen Zuhörern auslöste. » Das ist tief, tief im Walde, in einer tiefen Spalte des Kleinen Großvaters, eines der höchsten der Berge hier. Dorthin wagt sich selbst in friedlichen Zeiten kaum jemand. Schon die slawischen Heiden erzählten sich entsetzliche Geschichten über diesen Ort, aber seitdem es heißt, dass die Winselmütter dort hausen, kommt niemand mehr auch nur in die Nähe dieser Stelle. «
» Und das ist auch gut so « , hatte Ulrich auf einmal zu sprechen begonnen. » Wir selbst hatten es mit einer solchen weißen Frauengestalt in unserem Dorfe zu tun. «
Johann schaute den Bauern Filzhut ungläubig an. Was sprach Ulrich da? Noch nie hatte er von einem weiblichen Geist in ihrer westfälischen Heimat unter der Oldenburg gehört.
Ulrich schien die Verwirrung des Burschen zu bemerken und schenkte diesem einen eindeutigen Blick, der besagte, er solle bloß die Klappe halten. Johann gehorchte. Was auch immer dieser sture Hund im Schilde führte, eines hatte Ulrich längst unter Beweis gestellt: Er war nicht nur ein sturer, er war auch ein äußerst gerissener Hund.
» Diese Gestalten « , berichtete Ulrich weiter, an seinen Gastgeber gewandt, der ihm gespannt zuhörte, » sind sehr gefährlich. Ich kann mich gut erinnern, wie erschrocken meine Großmutter an einem Winterabend aus dem Spinnhaus in die Stube gelaufen kam. Die Winselmutter war erschienen und hatte durch das Fenster des kleinen Grubenhäuschens geblickt, in dem sich die Weiber zum Spinnen getroffen hatten. Entsetzlich geheult hat sie dabei und war dann verschwunden. In den nächsten drei Tagen starben zwei der Frauen eines unerklärlichen Todes, und zwei weitere waren fortan von einer unheilbaren Besessenheit befallen. Das Kreischen des Geistes hatte ihnen den Verstand geraubt. Immer wieder wurde die Weiße Frau im Dorfe gesehen. Ein Säugling, vier Ziegen und drei Hunde fielen dem Spuk noch zum Opfer. Man begann zu verzweifeln. Doch dann entdeckte ein Schweinehirte, der bis tief in die Nacht auf der Suche nach einer entlaufenen Sau war, durch Zufall die Heimstatt der Weißen Frau. Sie lebte in einem weit im Walde gelegenen, düsteren Moor, über dessen Oberfläche sie, im Mondeslicht strahlend, wandelte. Vor Schreck ergraut, lief der Bursche zurück ins Dorf und berichtete den Leuten. Man beratschlagte lange und kam endlich zu dem Schluss, der Winselmutter fortan Frieden zu schenken, indem man ihre Heimstatt, das Moor, weitläufig mied. Keine Schweinehirten, keine Holzsammler, keine Jäger kamen mehr in die Nähe dieser Stelle, und somit kehrte auch die Winselmutter nie wieder zurück in unser Dorf. «
Als Ulrich endete, waren aller Augen gebannt auf ihn gerichtet. Es gab keinen im Raume, der von einer Gänsehaut verschont geblieben war. Nicht einmal Ulrich selbst. Doch war es bei ihm weniger der Grusel als vielmehr die Zufriedenheit mit seiner eigenen Lügengeschichte, die ihm die Haare geradezu wohlig zu Berge stehen ließ.
» Du meinst, fremder Mann, wir haben den Frieden dieser Geister gestört? « , fragte nun ihr Gastgeber.
» So kann es sein. Wahrscheinlich hausen sie schon seit vielen, vielen Jahren an diesem Ort, den du eben nanntest. Wie war noch gleich der Name? «
» Dachsschlucht. «
» Ja, Dachsschlucht. Dort wird ihre Wohnstatt sein. Jemand muss sie dort aufgescheucht haben, und deshalb irren sie nun durch den Wald und suchen auch eure Siedlungen auf. Geht nie mehr auch nur in die Nähe dieser Schlucht, und der Fluch wird ein Ende haben. «
» Dein Ratschlag erleichtert mich. Ich werde mich bemühen, dass alle Menschen dieser Gegend wissen, dass sie die Dachsschlucht unbedingt meiden sollen. Es ist dort ohnehin nichts zu finden « , sagte der Alte nun, während Ulrich durchaus ein schlechtes Gewissen beschlich, diesen gutmütigen Menschen derart angeflunkert zu haben.
Der Weg hatte ihn zu einem nicht minder großen Lügner wie Regino gemacht, welchen er bis dato so sehr verabscheut hatte. Unglaublich, zu welcher Wandlung ein redlicher Bauer fähig war, wenn er sich gezwungen sah, seine Scholle zu verlassen. Sei’s drum, es ging um das Überleben der Gruppe, und er nahm den Leuten ja nichts weg, indem er ihnen etwas vorenthielt, von dem sie gar nicht wussten, dass es existierte. Was er ihnen nahm, war die Angst vor einem Hirngespinst. Und das war doch immerhin eine gute Tat.
Noch immer wurde Ulrich angestarrt. Johann und Regino blickten nach
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